Folge dem weißen Kaninchen
Forschungsobjekte seien nur die
Idiolekte
, also die Sprachen einzelner Menschen. Alle Menschen reden anders. Wenn zwei ähnlich genug sprechen, kann man der Einfachheit halber sagen, sie sprechen beispielsweise «Deutsch», doch mehr lässt sich davon nicht ableiten. Diese übertrieben wirkende Vorsichtsmaßnahme richtet sich gegen eine verbreitete, aber sehr fragwürdige Bedeutungstheorie, der zufolge Sprachen als abstrakte «Zeichensysteme» ein Eigenleben führen. Um das Problem daran zu sehen, muss man erst einmal wissen, was sprachliche Bedeutung ist.
Bedeutung
Im Wunderland trifft Alice irgendwann auf Humpty Dumpty, ein eitles Ei, das sprechen kann und auf einer Mauer sitzt. Humpty Dumpty will ihr weismachen, besser noch als Geburtstagsgeschenke seien «Ungeburtstagsgeschenke», die man bekommt, wenn man nicht Geburtstag hat. Er beendet seinen kurzen Monolog mit: «Da hast du deinen Ruhm.» Auf Alice’ Nachfrage, was er denn mit «Ruhm» meine, entgegnet er: «Ich meine ‹da hast du ein schlagendes Argument›.» Sie bezweifelt diese Wortbedeutung, woraufhin Humpty Dumpty feststellt: «Wenn
ich
ein Wort gebrauche, dann bedeutet es genau das, was es nach meinem Belieben zu bedeuten habe – nicht mehr und nicht weniger.»
Diese Sprachtheorie, also die Auffassung, dass wir selbst festlegen könnten, was wir mit einem Wort sagen wollen, nennen Philosophen manchmal spaßhaft
Humpty-Dumpty-Theorie der Bedeutung
. Diese Theorie ist aus mehreren Gründen zweifelhaft, hat allerdings einen wahren Kern. Der Zusammenhang zwischen einem Wort und seiner Bedeutung ist
arbiträr
: Er ist beliebig, denn die Lautfolge «R», «uh», «m» könnte im Deutschen auch «schlagendes Argument» bedeuten.
Man kann sich dieses Phänomen anhand zweier Bedeutungen von «Bedeutung» klarmachen. Zum einen sagen wir: «Rauch bedeutet Feuer.» Oder: «Diese Flecken bedeuten Masern.» Zum anderen sagen wir aber auch: «Die Wörter ‹anfangen› und ‹beginnen› bedeuten dasselbe.» Jedes Mal erhalten wir Informationen: einmal über einen Brand oder eine Krankheit, das andere Mal über Wörter.
Die Fälle unterscheiden sich allerdings in einem wichtigen Punkt, den der amerikanische Philosoph H. Paul Grice so erklärt: Bei Feuer und Masern reden wir über
natürliche Zeichen
, speziell Anzeichen oder Symptome. Nur im zweiten Fall geht es um die Sprachbedeutung der
symbolischen Zeichen
. Mit Wörtern muss immer eine Person etwas meinen. Im Feuer-Fall ist niemand da, der mit Rauch etwas meint, denn Rauch ist eine natürliche Folge von Feuer.
Buchstaben, Wörter und Sätze sind also keine Anzeichen, sondern
Symbole
: Sie haben weder eine natürliche Verbindung zu ihrer Quelle noch eine Ähnlichkeit mit ihr wie Bilder. Das Bild eines Hauses ähnelt dem tatsächlichen Haus: Die Tür ist unten, das Dach oben. Die Lautfolge «H», «au», «s» hingegen hat keine Ähnlichkeit mit einem Haus. Der Zusammenhang zwischen Lauten und Bedeutungen ist, wie gesagt,
arbiträr
.
Wenn man so will, sind Symbole abstrakt, ein Grund, warum sie so ein hervorragendes Speichermedium abgeben: Ein kleines Repertoire an Lauten und Wörtern reicht aus, um unendlich viele Informationen zu verwalten, ganz unabhängig vom Inhalt. Nur in ganz wenigen Fällen ist die Sprache bildhaft, beispielsweise in der
Lautmalerei
: Die Hummeln summen, bei dem Wort «Stottern» gerät man ins Stottern, und es knarrt und ächzt die Treppe unterm dröhnenden Tritt. Doch abgesehen von solchen Ausnahmen ist die Sprache symbolisch. In diesem Punkt hat Humpty Dumpty also seinen «Ruhm», sprich: sein schlagendes Argument. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass er sich eine eigene Sprache ausdenken kann. Selbst wenn es gelänge, würde ihn ja niemand verstehen. Er kann ohnehin nicht alle Wörter nach seinem Belieben verwenden. Wie sollte er sonst Alice erklären, was er mit «Ruhm» meint?
Wittgenstein hat diese Beobachtung thematisiert. Ihm zufolge legt der Gebrauch eines Wortes dessen Bedeutung fest. Wörter seien wie Instrumente. Wenn in Zukunft alle das Wort «Gummibärchen» verwenden, um damit Autos zu bezeichnen, dann bedeute «Gummibärchen» das, was jetzt «Auto» bedeutet. Mit seiner
Gebrauchstheorie
wendet sich Wittgenstein gegen die
Bildtheorie der Bedeutung
, die sagt: Wer die Bedeutung eines Wortes, beispielsweise «Auto», lernt, verbindet damit im Kopf die bildliche Vorstellung eines Autos. Der amerikanische Philosoph Willard Van Orman Quine nennt das
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