Folge dem weißen Kaninchen
südamerikanischen Sprachen und Hunderte andere, die unabhängig voneinander auf dem ganzen Erdball entstanden sind.
Drittens sind Wörter schnell gelernt und schnell wieder vergessen. Vor allem können wir sie austauschen und leicht aus anderen Sprachen importieren: Man kann einen «Tango» tanzen, eine «Orange» essen, eine « DVD » schauen oder sich einen «Shawl» umbinden, auch wenn die entsprechenden Wörter nicht aus dem Deutschen stammen. Was eine Sprache vor allem auszeichnet, ist ihre grammatische Struktur: ihre
Syntax
. Selbst tausend chinesische Wörter zu kennen reicht nicht aus, um Chinesisch zu sprechen. Man muss auch wissen, wie man sie zusammensetzt.
Und viertens ist die über den Sprachstil vermittelte soziale Rolle ein Nebenprodukt der Sprachfähigkeit. Ärzte formulieren ihre Diagnose in einem lateinischen Geheimcode, Jugendliche pflegen ihren Gruppenjargon, und die Mittelschicht drückt ihr Klassenbewusstsein in «richtigem» Deutsch aus, um sich nach unten abzugrenzen. Sprachwissenschaftler allerdings konzentrieren sich darauf, wie die Menschen
tatsächlich
sprechen, nicht, wie sie sich artikulieren
sollten
, um Nachrichtensprecher zu werden. Sie wollen anderen keine Vorschriften machen, sondern wie Physiker oder Biologen beschreiben und erklären, wie die Welt beschaffen ist.
Der Blick auf den ungeschönten Sprachgebrauch entspringt einer einfachen Idee: Wer einzelne Sprachen untersucht, untersucht damit indirekt eine mentale Fähigkeit, die alle Menschen auszeichnet, eben die Sprachfähigkeit. Diese phantastische Gabe macht unser Leben erst so abwechslungsreich. Damit stehen wir im Tierreich allein da. Einige Tiere können zwar
kommunizieren
, aber sie formulieren keine Sätze. Der Hund deutet vielleicht an, dass er Hunger hat, indem er einen mit großen Augen anschaut. Aber er stellt weder die Frage: «Kann ich Futter haben?», noch behauptet er: «Ich bin hungrig.» Das Nachtigallmännchen kann Hunderte von Melodien trällern, meint aber immer dasselbe: «Komm, paare dich mit mir!» Menschen hingegen können über alles reden: Vergangenes und Zukünftiges, Nahes und Fernes, Konkretes und Abstraktes, über Unmögliches und sogar über ihr Innenleben. Die Sprachfähigkeit ist dabei so universell wie der aufrechte Gang oder die Farbwahrnehmung.
Auch wenn man über Jahrhunderte glaubte, es gäbe primitive und elaborierte Sprachen, spricht vieles dagegen. Durch jahrelange Feldforschung in Regenwäldern, Bergdörfern, Trockensteppen sowie in Niederbayern haben Linguisten nahegelegt, dass alle Sprachen gleich ausdrucksstark sind.
Es scheint zwar so, als wäre beispielsweise Englisch leichter zu lernen als Japanisch. Doch das liegt nur an unserer Vorbildung, denn Deutsch und Englisch sind verwandte germanische Dialekte. Zudem ist Englisch diejenige Sprache, die man am einfachsten schlecht lernt. Man kann sich zwar schnell verständigen, weil man nur das Präsens braucht und kaum Beugungsformen lernen muss. The syntax, however, is so complex that one could barely dream of mastering it – wie ein englischer Freund einmal sagte.
Auf die Frage «Wie viele Sprachen existieren auf der Welt?» gibt es zwei Antworten. Die kurze lautet: etwa 6000 . Die lange: Kommt darauf an, was man genau mit «Sprache» meint. Schon die Abgrenzung zum Dialekt ist schwierig. Der Sprachwissenschaftler Max Weinreich, ein Experte für das Jiddische, ist für den Ausspruch bekannt: «Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Kriegsflotte.» Weinreich betont den Zufall und den Aspekt der Macht. So, wie vor langer Zeit Raubritter mit Gewalt Land nahmen und sich dann «adelig» nannten, so hat irgendwann ein Herrscher seinen Dialekt zur Landessprache erklärt, und niemand hat ihm in einem anderen Dialekt widersprochen.
Doch wo hört eine Sprache auf, und wo fängt die nächste an? Und wie soll man gruppieren? Ein Vorschlag zielt auf gegenseitige Verständlichkeit, ein anderer auf Ähnlichkeit in der Grammatik. Beides ist problematisch: Bairisch und Schwyzerdütsch gehören grammatisch zum Neuhochdeutschen, sind aber selbst für einen sprachbegeisterten Hannoveraner nur äußerst schwer zu verstehen. Spanisch hingegen ist näher mit dem Portugiesischen als mit dem Italienischen verwandt. Dennoch verstehen Spanier Italiener besser als Portugiesen.
Viele Sprachwissenschaftler fragen sich deshalb, ob es überhaupt sinnvoll ist, von dem «Deutschen» oder dem «Berlinischen» zu sprechen, denn lohnende
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