Folge dem weißen Kaninchen
rudimentäre Talent noch heute, aber fast jeder kann es erwerben. Dazu muss man zuerst das Gesicht zu wilden Grimassen verziehen und dann Schritt für Schritt trainieren, die Muskeln zu isolieren, bis nur noch der Ohrenmuskel übrig bleibt. Dieser ist anders als die Gesichtsmuskeln von einem motorischen Nervenkern gesteuert, der beim Menschen besonders klein geraten ist. Im Gegensatz zum Herzen jedoch, das von einem abgeschlossenen Hirnareal kontrolliert wird, besteht eine Nervenverbindung zwischen dem Planungszentrum im Hirn und dem Nervenkern des Ohrmuskels. Wenn wir einmal gelernt haben, wie man mit den Ohren wackelt, dann können wir es uns auch vornehmen.
Indem wir handeln, verändern wir die Welt, auch wenn wir nur mit den Ohren wackeln. Für viele unserer Handlungen haben wir gute Gründe, was nichts anderes heißt, als dass unsere Handlungen im Licht unserer Wünsche, Interessen, Absichten und Überzeugungen vernünftig sind. Zwischen unseren Wünschen, Absichten und Plänen auf der einen Seite und den Handlungen auf der anderen muss eine Kausalbeziehung bestehen, sonst könnte der Wunsch, eine Sandburg zu bauen, niemals dazu führen, dass da am Ende eine Sandburg steht.
Wir haben beim Handeln das Gefühl, etwas selbst zu tun: Wir spüren, dass unsere Handlungen von uns kommen. Außerdem sind wir uns sicher, dass wir die Wahl haben. Wenn es darauf ankommt, können wir uns sogar selbst so einstellen, dass unsere Routinen sich nicht aktivieren. Auch wenn wir jedes Mal aus Gewohnheit unter der Dusche singen, tun wir es nicht, wenn es noch früh ist und alle anderen schlafen. Wir können auch anders, nämlich stumm, duschen. Die Freiheit unserer routinierten und überlegten Handlungen liegt also im
Anderskönnen
. Wir tun das eine, hätten aber immer etwas anderes tun können. Eben das meinte Aristoteles, als er feststellte, dass auch das Unterlassen in unserer Gewalt liegt.
Aber: Könnte uns unser Gefühl nicht in die Irre leiten? Könnte es nicht sein, dass wir von Wahlmöglichkeiten ausgehen, die wir gar nicht haben? Diese Fragen treffen den Kern des
traditionellen Freiheitsproblems
. Dabei geht es, wie gesagt, nicht um Einschränkungen einzelner Taten, sondern darum, was unserer gesamten Handlungsfreiheit entgegenstehen könnte. Der stärkste Gegner der Freiheit ist das dicke D der Philosophie: der
Determinismus
. Das traditionelle Freiheitsproblem kann man auch als Frage formulieren: Sind wir frei, oder ist alles im Vorhinein festgelegt?
Determinismus
Der Determinismus ist die These, dass der Lauf der Welt ein für alle Mal festgelegt ist. Er behauptet also mehr als bloß «Que sera, sera» – was sein wird, wird sein. Der Determinismus sagt, dass alles
notwendigerweise
so passieren muss, wie es passiert. Auf das kleine Wort «notwendig» kommt es an. Damit sagt der Determinist nicht nur, dass alles kommt, wie es kommt, sondern auch: «Es kann gar nicht anders sein.» Doch woher stammt diese Notwendigkeit? Drei Antworten wurden in der Geschichte darauf gegeben: von Gott, vom Schicksal und von den Naturgesetzen.
Die Determinismusdebatte hat vom Gott- und Schicksalsglauben Abstand genommen. Wer heute glaubt, dass der Lauf der Welt notwendigerweise festgelegt ist, denkt dabei an die universellen Naturgesetze. Mit ihnen begründen die modernen Deterministen, warum es im Weltgeschehen keine Verzweigungen geben kann, also der gesamte Weltlauf schon beim Urknall ein für alle Mal festgelegt war. Die alte Vorstellung, dass alles Schicksal sei, drückt die moderne Naturwissenschaft seit Galileo Galilei also durch mathematische Gleichungen aus.
Was bedeutet das für uns? Wenn der Weltlauf alternativlos fixiert ist, dann steht heute schon fest, wie viele Milliliter Kaffee die amerikanische Präsidentin am 17 . Mai 2021 zum Frühstück trinken wird. Es steht auch heute schon fest, wie viele Sandkörner Sie im linken Schuh von Ihrem nächsten Sommerurlaub mit nach Hause nehmen werden. Anders ausgedrückt: Würde man das gesamte Universum noch einmal von vorn ablaufen lassen, würde wieder alles so geschehen, wie es in unserem Durchlauf geschehen ist.
An diese Idee anknüpfend, hat der französische Mathematiker und Philosoph Pierre-Simon Laplace im 18 . Jahrhundert ein berühmtes Gedankenexperiment ersonnen, um den Determinismus zu veranschaulichen. Laplace stellte sich ein höheres, gottähnliches Wesen vor, dem man später den Namen «Laplace’scher Dämon» gab. Der Laplace’sche Dämon kennt alle
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