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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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hat die Dosen da reingestellt? Kurze Überlegung: Das war ich selber. Ich habe sie gestern gekauft. Im Supermarkt aus dem Regal genommen. In den Einkaufswagen gelegt. An der Kasse bezahlt. Nach Hause getragen. Die Kühlschranktür geöffnet und die Dosen schön ordentlich im obersten Fach aufgereiht.
    Wie konnte es so weit kommen? Offenbar war ich im Supermarkt für einen Moment nicht Herr meiner selbst. Eine mögliche Erklärung dafür ist folgende: Auf meinem Weg komme ich immer an einem Werbeplakat für Red Bull vorbei. Ich habe es mir nie genau angesehen, allenfalls im Augenwinkel wahrgenommen. Und doch könnte es gut sein, dass das Bild meiner Entscheidung Flügel verliehen hat. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder das Plakat hat einen Kaufwunsch in mir entstehen lassen, den ich bei näherer Betrachtung gar nicht haben wollte. Oder es hat mich so beeinflusst, dass ich im Supermarkt wie ferngesteuert zur silber-blauen Dose gegriffen habe.
    In der Philosophie betrifft die erste Frage die
Willensfreiheit
und die zweite die
Handlungsfreiheit
. Willensfreiheit hat man, wenn man seinen Willen weitgehend uneingeschränkt formen kann, indem man überlegt und sich fragt, was man will. Ein Heroinsüchtiger hat keinen freien Willen gegenüber der Gier nach dem nächsten Schuss, weil dieser Wunsch übermächtig ist. Wie sehr er auch abwägt, kein anderer Wunsch wird jemals gegen seinen Drang nach dem Rausch bestehen können.
    Im Unterschied dazu hat Handlungsfreiheit, wer seine Wünsche, Interessen und Neigungen ungehindert in die Tat umsetzen kann. Beim Drogenabhängigen könnte zusätzlich zur Willensfreiheit auch die Handlungsfreiheit eingeschränkt sein, etwa wenn er in Untersuchungshaft sitzt und nicht an Stoff herankommt. Auch einem gesunden Menschen bringt die Willensfreiheit alleine nichts, solange er gefesselt ist und dadurch keine Handlungsfreiheit hat, also seinen Willen nicht verwirklichen kann.
    Kurz, «Handlungsfreiheit» heißt: Man kann tun, was man will. «Willensfreiheit» heißt: Man kann zwischen seinen Wünschen wählen. Die Unterscheidung hat sich so eingebürgert. Viel spricht aber dafür, die Willensfreiheit als einen Spezialfall der Handlungsfreiheit anzusehen, denn den eigenen Willen zu bilden, also innerlich zwischen Vorlieben und Wünschen abzuwägen, ist auch eine Handlung, eine sogenannte
mentale Handlung
, die wir im Geist vollziehen, ohne dabei einen einzigen Muskel anspannen zu müssen. Wer frei in seinen Handlungen ist, kann tun, was er will, und hätte immer auch etwas anderes tun können. Aristoteles hat das so ausgedrückt: «Wo das Tun in unserer Gewalt ist, da ist es auch das Unterlassen.»
    Wenn in der modernen Philosophie von «Handlungsfreiheit» die Rede ist, geht es oft um mehr als nur um Einkaufen und Drogenmissbrauch. In der Freiheitsdiskussion radikalisiert man die einzelnen Einschränkungen, indem man fragt, ob es möglich wäre, dass all unsere Taten unfrei sind: jeder Atemzug, jede Überlegung, jeder Spaziergang und jedes Gespräch. Doch bevor man beurteilen kann, ob wir Menschen frei im Handeln sind, muss man sich klarmachen, was Handlungen überhaupt sind.

Flirten und andere Handlungen
    Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Party und lassen den Blick schweifen. Jemand an der Bar gefällt Ihnen. Sehr gut sogar. Sie steuern an den Gästen vorbei schnurstracks auf die Bar zu. Dabei rempeln Sie aus Versehen den Gastgeber an, der fast seinen Drink verschüttet. Kurz darauf stehen Sie neben der Person Ihrer Begierde. Vor Aufregung bekommen Sie einen Schluckauf. Das Gespräch beginnt zwar ungelenk, doch schon bald haben Sie beide denselben Swing. Die Zeit vergeht wie im Flug. Wenn Sie eine Frau sind, spielen Sie während des Flirts vielleicht gedankenverloren in Ihren Haaren. Sind Sie ein Mann, stemmen Sie vielleicht die Hände in die Hüften und drücken den Brustkorb heraus.
    In kurzer Zeit haben Sie einiges getan: Sie haben umhergeschaut, sich auf den Weg gemacht, jemanden angerempelt, einen Schluckauf bekommen, gesprochen und mit Ihrem Körper Balzsignale ausgesendet. Nicht alles, was Sie getan haben, waren Handlungen. Das Zur-Bar-Gehen war sicher eine typische Handlung, denn Sie haben sich dazu entschieden und sind dann ganz bewusst durch den Raum geschritten. Das Anrempeln war keine Handlung: Sie wollten es nicht und haben es nicht absichtlich getan, sondern aus Versehen. Es war allenfalls eine ungewollte Folge Ihres zielgesteuerten Marsches quer über die

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