Folge dem weißen Kaninchen
Tanzfläche. Ihr Schluckauf war auch keine Handlung. Diese rhythmische Muskelkontraktion war zwar ein Vorgang in Ihrem Körper, aber Sie wollten keinen Schluckauf haben, schon gar nicht in diesem Moment. Sie hatten auch nicht das Gefühl, dass Sie Ihr Zwerchfell selber zusammenziehen, wie vielleicht ein Schauspieler auf der Bühne, wenn er eine Figur mit Schluckauf spielt. Die einzelnen Schluckser sind Ihnen nur zugestoßen. Sie haben sie also nicht willentlich oder absichtlich vollzogen, sondern waren ihnen passiv ausgeliefert.
Ein komplizierter Fall ist das Balzverhalten: das Spielen im Haar und die Pose des Arme-in-die-Hüften-Stemmens. Sie haben nicht die Absicht gefasst, auf diese Weise zu flirten, oder es im Vorhinein geplant. Aber es ist Ihnen auch nicht passiv widerfahren wie der Schluckauf. Irgendwie kam ihr Verhalten schon von Ihnen. Hätte man Sie darauf angesprochen, wäre Ihnen aufgefallen, dass Sie da etwas selber getan haben, wenn auch geistesabwesend. Sie hatten nicht das Gefühl, dass Ihre Hände sich auf fremde Weise von alleine bewegt haben. Ihr Balzverhalten war nämlich eine
intuitive Handlung
. Die Tatsache, dass intuitive Handlungen ebenso wie Gewohnheitshandlungen fast wie von selbst ablaufen, hat viele Psychologen verleitet, sie als «unbewusst» oder «automatisch» zu klassifizieren und mit echten
Automatismen
wie dem Schluckauf zu verwechseln. Das ist auch verständlich, denn beide haben gemein, dass sie am Rand der Aufmerksamkeit stattfinden. Nur: Das Flirten stößt uns nicht passiv zu, sondern wir merken, dass wir es selbst tun, sobald wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken. Ganz im Gegensatz zum Schluckauf.
Am besten kann man sich den Unterschied zwischen Handlungen und Automatismen so verdeutlichen: Wir handeln, wenn wir etwas absichtlich tun, also wenn wir unsere Körperbewegungen oder Gedanken selbst vollziehen. Ein anderer Ausdruck für «etwas absichtlich tun» ist «etwas willentlich tun». Kinder lernen das früh. Sie sagen: «Das hast du extra gemacht!» Die Eltern fragen ähnlich: «Hast du das absichtlich getan?» In diesen Sätzen steckt eine genaue Handlungsdefinition, denn «absichtlich» oder «extra» charakterisiert die Art und Weise,
wie
wir etwas tun. Absichten oder Pläne hingegen fasst man,
bevor
man etwas tut. Auch wenn sich «Absicht» und «absichtlich» vom selben Wortstamm herleiten, bezeichnen sie nicht dasselbe.
Manchmal denken wir gründlich nach, bevor wir die Entscheidung treffen, etwas zu tun. Das führt typischerweise zu geplanten oder durchdachten Handlungen, die wir eben nicht nur absichtlich, sondern mit einer bestimmten Absicht ausführen. Wer sagt: «Ich vermisse dich», tut nicht nur etwas selber, sondern beabsichtigt, damit etwas mitzuteilen. Viele alltägliche Handlungen sind jedoch routiniert: Wir führen sie aus, auch wenn wir uns nicht darauf konzentrieren müssen und oft keine Absichten oder Pläne mit ihnen verfolgen: Wir kratzen uns am Kopf, schalten beim Autofahren, bewegen die Beine beim Gehen oder singen unter der Dusche. Natürlich können wir auch all diese Handlungen konzentriert und geplant ausführen.
Ganz anders sieht es beim Schluckauf aus, der uns bloß zustößt, genauso wie unsere Verdauung, unser Herzschlag und die Teilung unserer Körperzellen. All das sind Automatismen und keine Handlungen, weil wir sie niemals absichtlich ausführen können. Selbstverständlich können wir rennen, um unseren Puls hochzujagen, aber wir können den Herzschlag nicht direkt verändern oder kontrollieren. Auch Mönche des Zen-Buddhismus, die ihre Herzfrequenz verlangsamen, tun das nicht direkt, sondern über einen Umweg, nämlich indem sie meditieren – wie auch immer das im Einzelfall aussehen mag.
Unsere Atmung nimmt eine Mittelstellung ein, weil sie meistens automatisch abläuft. Wäre das nicht so, könnten wir keinen einzigen Tiefschlaf überleben. Die Atmung können wir aber auch direkt beeinflussen. Wir können willentlich die Luft anhalten. Zwischen unseren Absichten und den Atemmuskeln in Brust und Zwerchfell muss es also eine Nervenverbindung geben, sonst könnten wir die Atmung nicht direkt kontrollieren.
Ein schönes Beispiel für diesen Zusammenhang ist das Ohrenwackeln. Einige Menschen können ihre Ohren willentlich bewegen. Vermutlich ist das ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten, als unsere eichhörnchenähnlichen Vorfahren ihre Lauscher zu Geräuschquellen hin ausgerichtet haben. Nur wenige haben dieses
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