Folge dem weißen Kaninchen
geliefert. Doch so eindrucksvoll das auch klingen mag, es gründet leider auf einem Trugschluss. Schon Jahrzehnte zuvor hat der Physiknobelpreisträger Erwin Schrödinger eine Kritik an Penrose vorweggenommen. Er fragte, wie es der menschliche Geist denn schaffen solle, seine Wirksamkeit gerade in diesen kleinen Lücken zu platzieren. Zufälle, Ungenauigkeiten, Unschärfe auf der Mikroebene geben einer Person ja nicht plötzlich eine Wahlmöglichkeit. Anders ausgedrückt: Wenn jede Quantenungenauigkeit im Kleinen so etwas wie der Münzwurf von Doppelgesicht wäre, würde das nichts mit der ganzen Person zu tun haben, die tatsächlich handelt. Schon gar nicht würde der Mikromünzwurf der Person helfen, frei zu sein, denn wie gesagt: Wer ausschließlich von Uneindeutigkeiten oder vom Zufall gelenkt wird, ist überhaupt kein handelndes Wesen, sondern eher wie eine Polle, die vom Wind durch die Luft gewirbelt wird, oder wie ein Tischtennisball, den die Wellen im Meer tanzen lassen.
Wer den Zufall in den Vordergrund rückt, widerspricht unserer moralischen Auffassung von Schuld und Verantwortung. Die Figur Doppelgesicht ist eben nicht halb gut und halb böse, wie es im Comic manchmal suggeriert wird, sondern böse, denn wer seine Entscheidungen nicht von seinen eigenen Gründen abhängig macht, sondern vom Münzwurf, dem ist das Wohlergehen anderer vollkommen egal. So ein Verhalten würden wir jedem vorwerfen. Mehr noch: Würde jeder nach Zufall entscheiden, könnte man überhaupt nicht mehr planen, denn man könnte sich auf niemanden mehr verlassen. Eine Welt mit Doppelgesichtigen wäre eine Welt voller Chaos und Anarchie.
Das Problem liegt auf der Hand: Das Gegenteil des Determinismus ist der
Indeterminismus
, aber der Indeterminismus ist nicht dasselbe wie der blanke Zufall. Deshalb müssen sich die Freiheitsfreunde nicht gegen den Vorwurf verteidigen, in einer indeterministischen Welt herrsche das Chaos. Und schon gar nicht kann man den Zufall zur Verteidigung der Freiheit bemühen, denn der macht die Sache nicht besser. Nach allem, was wir wissen, ist unsere Welt weder deterministisch noch chaotisch, sondern sie ist relativ geordnet, ohne dabei alternativlos festgelegt zu sein. Der Weltlauf lässt Verzweigungen zu, ist dabei aber so gleichförmig, dass auf unserer Erde Leben entstehen konnte und wir weit in die Zukunft hinein planen können. Ordnung ist die Mittelposition zwischen strenger Notwendigkeit und bloßem Zufall.
Die Willkür der Existenzialisten
In André Gides Roman
Die Verliese des Vatikan
stößt Lafcadio seinen Mitreisenden Fleurissoire aus dem fahrenden Zug in die dunkle Tiefe. Offenbar fasziniert ihn die Idee eines motivlosen Mordes. Bei seiner düsteren Tat lässt er den Zufall walten: Sollte er bis zwölf zählen können, ohne in der nächtlichen Landschaft ein Licht zu erspähen, sei Fleurissoire gerettet. Unglücklicherweise kommt er nur bis zur Zehn.
Die französischen Philosophen Jean-Paul Sartre, Albert Camus und andere Anhänger des Existenzialismus waren von diesem Zufallselement in Handlungen fasziniert: Vollständige Freiheit könne man nur erreichen, wenn man sich nicht nur von allen Zwängen, sondern auch von den eigenen Gründen losmache. Eine reine Willkürhandlung, der sogenannte
acte gratuit
, sei das höchste Maß der individuellen Freiheit.
Lafcadio macht seine Entscheidung vom Zufall abhängig wie Doppelgesicht mit seinem janusköpfigen Münzwurf. Aus Sicht der Existenzialisten ist Lafcadio wirklich frei, weil er vollkommen grundlos handelt, sich also von jeder Form der Verursachung loslöst. Auch diese Auffassung von Freiheit gründet auf einem Irrtum. Erstens stimmt es gar nicht, dass Lafcadio keinen Grund für seine Tat hatte. Immerhin war er neugierig darauf, wie es sein wird, einen Fremden in den Tod zu stoßen. Wir sagen zwar im Alltag: «Ich habe gerade ohne Grund gesungen», meinen damit aber genauer: «Ich hatte keinen weiteren Grund als eben den, singen zu wollen.» So hatte Lafcadio mindestens diesen Grund: eine perverse Form der Neugier, zu erleben, wie es ist, ein Mörder zu sein – auch wenn das kein vernünftiger oder guter Grund war.
Der zweite Irrtum des Existenzialismus lässt sich gut am Wort «willkürlich» erklären. Im Alltag heißt «willkürlich» so viel wie «beliebig», «grundlos», «prinzipienlos». Es hat aber eine zweite, ältere Bedeutung, die in der Psychologie noch gebräuchlich ist. Wenn dort von «willkürlichen Bewegungen» die
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