Folge dem weißen Kaninchen
Sie geben ein falsches Bild davon ab, wie wir Handlungen beginnen. Es gibt nämlich gar keinen Willensruck, der unseren Handlungen vorausgeht. Tippen Sie noch einmal mit dem Finger auf Ihr Knie. Spüren Sie vor jedem Tippen einen Willensimpuls? Gewiss, manchmal sagt man zu sich selbst: «Jetzt», oder man zählt bis drei oder gibt sich innerlich einen Ruck. Aber all das sind ebenfalls Handlungen, die der Körperhandlung vorausgehen und laut der Hypothese ebenfalls einen Willensimpuls benötigen.
Tagtäglich fahren wir Auto oder Fahrrad, essen, diskutieren, schreiben, küssen einander oder strecken uns genüsslich auf dem Sofa aus. Keine dieser Handlungen ist von ominösen Willensimpulsen begleitet. Natürlich wollen wir meistens das, was wir tun, und oft spüren wir auch unsere Wünsche süß und lieblich in uns oder übermächtig und gebietend. Aber einen Wunsch zu spüren ist nicht dasselbe, wie einen Ruck kurz vor einer Körperbewegung zu spüren.
Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett hält den Willensruck daher für die Erfindung einer falschverstandenen Theorie. An dieser Diagnose ist etwas dran. Vermutlich ist Folgendes passiert: Eine Autorität mit akademischem Titel fragt eine Versuchsperson, ob sie den Willensruck gespürt habe. Die Versuchsperson fühlt sich verpflichtet, etwas zu sagen – schließlich bekommt sie dafür zehn Euro die Stunde oder die Seminarnote am Ende des Semesters wie in Libets Fall. Die Probanden haben sicherlich nicht einfach gelogen, sondern eher versucht, irgendetwas zu finden, was zu «Wille» oder «Entscheidung» passt. Manche werden innerlich «Jetzt» gesagt, andere einfach ihre Körperbewegung gefühlt haben. Und alle haben diese verschiedenen Ereignisse dann als Willensruck identifiziert. Tatsächlich datierten die Versuchspersonen diesen auch irgendwo zwischen drei Sekunden vor der Bewegung und einer halben Sekunde danach. Gemittelt kam dann der «verspätete» Wille heraus.
Wie Libet beschäftigt sich auch der deutsche Hirnforscher John-Dylan Haynes mit Handlungssteuerung. Anhand der Hirnaktivität konnte er vorhersagen, ob Versuchspersonen den linken oder rechten Finger bewegen werden – allerdings sogar bis zu zehn Sekunden, bevor sie die «bewusste Entscheidung» dazu fällen. Die Korrektheit seiner Vorhersage lag allerdings nur bei 60 Prozent: deutlich genug über der Durchschnittswahrscheinlichkeit von 50 Prozent, um pures Rateglück auszuschließen, aber auch nicht weit genug davon entfernt, um von «neuronaler Festlegung» zu sprechen. Einige Forscher sind von der Vorhersagetiefe von zehn Sekunden beeindruckt. Da fragt man sich, warum. Ein Beispiel: Viele von uns stehen wochentags um dieselbe Zeit auf, gehen ins Bad und putzen sich die Zähne. Ohne teure Messapparaturen kann das jeder aufmerksame Beobachter mit einer Tiefe von mehreren Wochen und einer Genauigkeit von fast 100 Prozent vorhersagen. Wenn unser Verhalten nicht oft in dieser Weise vorhersagbar wäre, könnten wir niemals miteinander kooperieren. Dass man das auch neurologisch nachweisen kann, darf niemanden überraschen. Im Gegenteil: Könnte man es nicht nachweisen, dann müsste man stutzig werden.
Einige Neurowissenschaftler vertreten noch stärkere Thesen: Das Gehirn «entscheide» nicht nur für uns in einzelnen Fällen, es «determiniere» alles, was wir tun. Der deutsche Neurowissenschaftler Wolf Singer behauptet entsprechend: «Verschaltungen legen uns fest.» Solchen Thesen liegen mindestens zwei Verwechslungen zugrunde. Zum einen können Gehirne nichts entscheiden, sondern nur Menschen mit Gehirnen, genauso wie Füße keinen Spaziergang machen, sondern nur Menschen mit Füßen. Außerdem hat hier «determinieren» oder «festlegen» nichts mit dem Determinismus zu tun, denn der sagt ja etwas über den gesamten Weltlauf. Wenn von Anfang an festgelegt ist, was im Universum passiert, dann gilt das auch für jedes einzelne Gehirn innerhalb des Universums. Der Umkehrschluss gilt nicht: Nur weil man im Gehirn regelmäßige Abläufe findet, folgt daraus noch lange nicht, dass das ganze Universum und somit unser Handeln alternativlos festgelegt sind.
Die Einzelbeobachtungen von Neurowissenschaftlern steuern nichts zur Freiheitsdebatte bei. Natürlich kann sich jeder in eine philosophische Debatte einmischen. Aber dann kann man auch erwarten, dass sich die Teilnehmer auf den aktuellen Forschungsstand bringen. Das Gleiche gilt natürlich auch für Philosophen, wenn sie die
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