Folge dem weißen Kaninchen
Bibliotheken.
Aber wissen wir nicht dennoch mehr als die Steinzeitmenschen? Selbst einzelne Überzeugungen zu zählen ist schwierig, denn man weiß nie, ob man nur die zählt, die man wirklich erworben hat wie « 2 + 2 = 4 » oder «Der Eiffelturm steht in Paris» oder auch die, die man aus dem Stegreif erzeugen kann wie « 75 + 73 = 148 » oder «Fische können nicht Schach spielen». Doch wenn man Letztere mitzählt, hätte fast jeder Mensch unendlich viele wahre gerechtfertigte Überzeugungen, also unendlich viel Wissen.
Tatsächlich meinen die Verfechter einer Wissensvermehrung ohnehin eher
Informationen
, wenn sie von «Wissen» sprechen, obwohl niemand genau sagen kann, was Informationen eigentlich sind. Viele überblenden zudem Wissen mit Erklärungen: Irgendwie haben sie im Hinterkopf, dass unser Fundamentalwissen aus Physik, Chemie und Biologie erlaubt, die Welt besser zu
verstehen
, mit wenigen einfachen Prinzipien zu
erklären
und dadurch die Zukunft genauer
vorherzusagen
. Doch mit weniger mehr zu erklären ist nicht dasselbe, wie mehr zu haben.
Fundament oder Netz?
Die erste Frage der Erkenntnistheorie lautet: Was ist Wissen? Die zweite Frage: Was können wir wissen? Da für Wissen die Rechtfertigung entscheidend ist, kann man sie auch spezieller formulieren: Worin genau liegt die Rechtfertigung?
Lange Zeit haben Philosophen nach einem
Fundament
der Erkenntnis gesucht, auf dessen Grundlage man alle Überzeugungen rechtfertigen könne. Ein populärer Vorschlag war die Wahrnehmung. Alles, oder jedenfalls fast alles, was wir über die Welt wissen, ist irgendwann einmal über die Wahrnehmung in uns gelangt. Allerdings haben wir alle schon einmal einen Strauch im Dunkeln für ein Tier gehalten oder zwei Menschen miteinander verwechselt. Die Wahrnehmung scheint also nicht immer verlässlich zu sein.
Daher haben andere das Fundament in unmittelbar einleuchtenden Einsichten gesehen oder in unbezweifelbaren Gedanken. In vielen Religionen ist heute noch oft von einer besonderen
Intuition
die Rede, einem sechsten Sinn, mit dem einige zu höheren Erkenntnissen gelangen sollen, die anderen auf immer verschlossen bleiben. Doch hier stellt sich die Frage der Überprüfbarkeit: Wie kann man sich bei seinem sechsten Sinn jemals sicher sein? Auf einem bröseligen Untergrund will man ja kein Wissensgebäude errichten.
Als Gegenbild zum Fundament der Erkenntnis haben die Anhänger der
Kohärenztheorie
das Netz vorgeschlagen, das besser hält, weil es elastischer ist. Um beispielsweise zu wissen, dass Berlin die Hauptstadt von Deutschland ist, muss ich auch wissen, dass Berlin aus Häusern besteht, in denen Menschen wohnen, und dass Deutschland ein souveräner Staat ist und Staaten Hauptstädte haben. Davidson und der amerikanische Philosoph Willard Van Orman Quine haben deutlich gemacht, dass eine Überzeugung nur durch ein Geflecht weiterer Überzeugungen gerechtfertigt werden kann, die sich
gegenseitig
stützen.
Eine Bedingung kommt noch hinzu: Der Weg zum Netz der Überzeugungen muss verlässlich sein, daher spielt die Wahrnehmung doch eine entscheidende Rolle. Nur weil es eine kausale Verbindung zwischen dem Eiffelturm und mir gibt, komme ich zu der Überzeugung, dass ich vor dem Eiffelturm stehe. Wäre das nicht so, könnten wir gar nicht von «Wahrnehmung» sprechen. Manchmal ist diese Verbindung kurz: Die Lichtstrahlen, die der Eiffelturm reflektiert, treffen direkt auf meine Netzhaut. Oft ist diese Verbindung jedoch lang, denn wir wissen viel, das wir nicht direkt erlebt, sondern von anderen vermittelt bekommen haben, beispielsweise über Bücher oder die Nachrichten. Auch wenn die Wahrnehmung fehleranfällig ist, erlaubt sie uns, unser Netz an Überzeugungen weiterzuspinnen.
Gibt es eine Welt hinter der Welt?
Kennen Sie das? Sie sitzen mit vielen anderen in einem großen dunklen Raum und blicken ganz gefesselt auf die bewegten Bilder vor Ihnen auf der Leinwand. Die Bilder sind nur eine Nachahmung der Wirklichkeit, erzeugt von einem Projektor hinter ihnen. Das klingt nach Dolby Surround und riecht nach Popcorn, ist aber das
Höhlengleichnis
von Platon, der mehr als zwei Jahrtausende vor den Brüdern Lumière das Kino erfunden hat.
Allerdings hatte Platon mit seinem Gleichnis etwas ganz anderes im Sinn. Er benutzte es, um seine Theorie der Ideen zu veranschaulichen: Wir Menschen seien wie in einer Höhle gefangen und sähen nur die Schatten der echten Dinge, die hinter uns an einer Lichtquelle
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