Fool on the Hill
Vorstellung, und Aurora hätte sie Brian und den anderen Christlern niemals erklären, geschweige denn vor ihnen rechtfertigen können. Also glaubte sie einfach daran, in aller Stille und ganz für sich allein.
An einer Stelle entdeckte sie jenseits des Flüßchens einen eigentümlichen Stapel von Baumstämmen, der in Verbindung mit der zunehmenden Dämmerung an ein Blockhaus erinnerte. Sie mußte an eine Episode in Georges Buch denken, in der der Ritter der Weißen Rose und sein Knappe eines Abends in einem verwunschenen Wald in einer Hütte einkehren. Die schöne Hausherrin verwandelt sich bei Mondaufgang in einen Grislybären, und der Ritter kann sich nur mit knapper Not der Halbierung durch das Untier entziehen. Was den letzten Teil anging, war sich Aurora nicht so sicher, doch die vorausgegangene Beschreibung des Waldes und des Gehöfts hatte ihr sehr gefallen. Es wäre hübsch, in einem Zauberwald zu wohnen, dachte sie, und ab und zu käme ein fahrender Ritter zu Besuch. Ich möchte einfach nicht, daß du in dreißig Jahren aufwachst und feststellen mußt, daß deine Chance, mehr vom Leben zu haben, unwiederbringlich vertan ist.
Im Lauf der letzten zwei Wochen hatte Aurora mehr als einmal darüber nachgedacht, was ihr Vater am Morgen ihrer Abfahrt gesagt hatte. Und wenn sie auch bei weitem nicht den ganzen Sinn seiner Rede entwirrt hatte, so begriff sie doch allmählich, was sein Hauptanliegen gewesen war, sie begriff jetzt seine Angst vor Brian Garroway und dem Einfluß, den dieser möglicherweise auf sie ausüben würde. Walter hatte ihren Freund zwar mit keinem Wort erwähnt, aber das war auch nicht nötig gewesen.
Sie hatte diesbezüglich recht gemischte Gefühle. Zuerst einmal rührte es sie, wie sehr sie ihrem Vater offensichtlich am Herzen lag, da sie wußte, daß sein Motiv Liebe und nicht Eigensucht gewesen war. Sicher, Walter träumte zweifellos davon, der Vater einer Nonkonformistin zu sein, doch die Betroffenheit, die seine Stimme an jenem Morgen verraten hatte, war nicht lediglich die eines Mannes gewesen, der befürchtete, von einem Traum Abschied nehmen zu müssen.
Dann erheiterte sie diese weitere Bestätigung ihrer Weltanschauung. Von Gott hieß es, Er sei allwissend, und doch hatte Aurora noch keinen Mann kennengelernt, der auch nur die geringste Begabung zum Gedankenlesen gehabt hätte. Ihr Vater war offensichtlich zum Schluß gelangt, daß ihr, da sie nach außen hin keinerlei Symptome einer radikalen Gesinnung erkennen ließ, die Fähigkeit und das Bedürfnis, »anders« zu sein, irgendwie abhanden gekommen sein mußten. Hier irrte sich Walter gewaltig. Gewiß, sie war ein recht stiller Teenager gewesen, hatte nur spärliche Anzeichen von Rebellion oder Widerspenstigkeit an den Tag gelegt. Von derlei Kundgebungen hielt Aurora nichts; wenngleich sie für Menschen, deren täglich Brot die Auseinandersetzung war, eine gewisse Bewunderung hegte, ging sie selbst (außer, wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ) jeder Konfrontation geflissentlich aus dem Weg und behielt weit mehr für sich, als die meisten geglaubt hätten. Doch ihre Träume waren grenzenlos.
Wenn Aurora gekonnt hätte, wäre sie unverzüglich in die Welt von Georges Buch hineingestiegen. Warum auch nicht? Durchquere den Zauberfluß und betrete eine verwunschene Welt. Und wenn man dabei einem Drachen oder auch zweien entgegentreten mußte, so war das ein durchaus angemessener Eintrittspreis. Im wirklichen Leben aber gab es andere Dinge, die einen davon abhielten, den Fluß zu überqueren, und die sogar noch stärker waren als Drachen. Zum Beispiel die Liebe.
Aurora liebte Brian Garroway. In Anbetracht der Beschaffenheit und Tiefe ihrer Träume hätte dies verwunderlich erscheinen können, doch die Liebe hatte ihre eigenen Geheimnisse. Für Walter Smith waren Brians schlechte Seiten offenkundig: Ungeduld, eine unerschütterliche Achtung vor dem Gesetz, allgemeine Intoleranz. Aurora jedoch konnte mit ihrem geringeren Abstand ebenso deutlich seine guten Seiten erkennen. Sie hatte Situationen miterlebt, die Walt nie kennenlernen würde: der ungeduldige Brian, der einen ganzen Sonntagnachmittag opferte, um das verendete Kaninchen seiner kleinen Schwester mit allen gebührenden Ehren zu Grabe zu tragen; der gesetzestreue Brian, der zahllose rote Ampeln überfuhr, um dieselbe kleine Schwester, die sich beim Rollschuhlaufen einen Knöchel gebrochen hatte, ins Krankenhaus zu bringen; der intolerante Brian, der kilometerweit
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