For the Win - Roman
Er fragte herum, ob einer der anderen in dieselbe Richtung müsse und bereit sei, sich ein Taxi zu teilen. Das war zwar ein unvorstellbarer Luxus, aber den Job zu verlieren war erst recht unvorstellbar.
Ein Mann mit einem Shaanxi-Akzent war zwar bereit, doch da fiel ihnen auf, dass gar keine Taxis unterwegs zu sein schienen. Und wie er nun einmal war, entschloss sich Lu, zur Arbeit zu laufen: fünfzehn Kilometer in der glühenden, sengenden, schweißtreibenden Hitze, seine Arbeitskleidung über dem Arm, sein Unterhemd hochgekrempelt, die Schuhe voller Staub.
Als er die Miracle-Spirit- Kondenstrocknerfabrik erreichte, fand er sich inmitten eines Mobs Tausender schreiender junger Frauen wieder. Sie trugen alle die fabrikeigenen Arbeitskittel und drängten sich vor dem Zaun mit seinem doppelt gesicherten Tor. Sie rüttelten daran und schrien die dunklen Fenster der Fabrik an. Ein paar der Mädchen hatten kleine Rucksäcke oder Reisetaschen dabei, aus denen Unterwäsche oder Make-up quoll.
»Was ist los?«, rief er und zog ein Mädchen aus der Menge.
»Die Schweine haben die Fabrik geschlossen und uns vor die Tür gesetzt! Einfach so, während des Schichtwechsels. Der Feueralarm ging los, sie riefen ›Feuer!‹ und ›Rauch!‹, und als wir alle draußen waren, haben sie einfach das Tor geschlossen!«
»Wer?« Er hatte immer geglaubt, dass sie die Wachleute einsetzen würden, wenn es zu so was kam. Er hatte gedacht, dass wenigstens er noch einen letzten Scheck von der Fabrik bekommen würde.
»Die Bosse, sechs von ihnen. Mr. Dai und fünf seiner Aufseher. Sie haben das Vordertor verschlossen und sind dann durch das Hintertor raus. Das haben sie auch verschlossen, dann sind sie weggefahren. Wir sind alle ausgesperrt. Meine ganzen Sachen sind noch da drin! Mein Telefon, mein Geld, meine Kleider … «
Ihr letzter Gehaltsscheck. Es waren nur noch drei Tage bis zum Zahltag, und natürlich hatte die Fabrik auch den Lohn der ersten acht Wochen einbehalten. Man musste seinen Boss um Erlaubnis bitten, wenn man den Job wechseln wollte, sonst verlor man das Geld für zwei Monate.
Um sie herum schwollen die Schreie weiter an, und kleine Frauenfäuste reckten sich in die Luft. Wen schrien sie an? Die Fabrik war doch leer. Wenn sie die Betonmauer hochkletterten, den Stacheldraht durchtrennten und die Schlösser an den Türen aufbrachen, gehörte der Laden praktisch ihnen. Zwar konnten sie schlecht einen Kondenstrockner raustragen – zumindest nicht so ohne Weiteres – , aber es gab viele kleinere Dinge dort drin: Werkzeuge, Stühle, Küchengeräte und natürlich die Besitztümer der Mädchen, die nicht daran gedacht hatten, sie mitzunehmen, als der Feueralarm losging.
Lu wusste genau, was man alles aus der Fabrik schmuggeln konnte. Er war ein Wachmann. Oder war einer gewesen. Zu seinem Job hatte auch gehört, die anderen Angestellten nach Schichtende zu durchsuchen, damit sie nichts stahlen. Sein Vorgesetzter, Mr. Chu, hatte wiederum ihn durchsucht, bevor er nach Hause ging. Ob auch jemand Mr. Chu durchsuchte, hatte er nie rausbekommen.
An seinem Gürtel trug Lu ein kleines Multitool. Immer eine Zange, ein Messer und einen Schraubenzieher dabeizuhaben, verschaffte einem einen völlig neuen Blick auf die Welt: Sie wurde zu einem Ort, der aufgebrochen, in Stücke geschnitten und losgeschraubt werden konnte.
»Ist das deine einzige Jacke?«, rief er dem Mädchen neben sich ins Ohr. Sie war ein wenig kleiner als er, mit einem Leberfleck auf der Wange, den er irgendwie süß fand.
»Natürlich nicht!«, sagte sie. »Drinnen habe ich noch zwei.«
»Wenn ich dir die anderen beiden besorge, kann ich die hier dann benutzen?« Er klappte sein Multitool auf. Die Zange war mit einem teuflisch scharfen Drahtschneider versehen, und die Gelenke übten eine beachtliche Hebelkraft aus, wenn man ordentlich zudrückte. Das Mädchen aus seinem Dorf hatte eine Weile in der SOG -Fabrik in Dongguan gearbeitet. Sie hatte ihm das Multitool geschenkt und ihm viel Erfolg in Südchina gewünscht.
Das Mädchen mit den drei Jacken wies auf den Stacheldraht. »Der wird dich in Stücke schneiden.«
Lu grinste. »Kann sein. Aber das wollen wir doch erst mal sehen.«
»Jungen!«, rief sie ihm ins Ohr. Er konnte den Reisbrei riechen, den sie gefrühstückt hatte, und bekam etwas Heimweh. »Alles klar. Aber sei vorsichtig!« Sie schlüpfte aus ihrer Jacke. Darunter kamen zwei muskulöse Arme zum Vorschein, kräftig und mager von der vielen Arbeit am
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