For the Win - Roman
dass er seine Eltern nicht lieb hatte. Das tat er. Sie waren anständige Leute, und auf ihre Weise hatten sie ihn auch lieb. Aber sie lebten in einer unwirklichen Welt namens Orange County, wo es noch Reihen ordentlicher, identischer Häuschen und ordentlicher, identischer Leben gab, während um sie herum alles zusammenbrach. Sein Vater nahm es nicht wahr, auch wenn kaum ein Tag verging, an dem er nicht nach Hause kam und sich beschwerte – dass seine Schiffe wieder mal ein paar Container in einem Monstersturm verloren hatten, dass die Dieselpreise ins Astronomische stiegen, der Dollar immer weiter gegenüber dem Yuan verlor, die Amerikaner die Gürtel immer enger schnallten und die sinkende Nachfrage nach chinesischen Gütern sein Geschäft ruinierte.
Wei-Dong hatte das alles durchschaut. Weil er aufmerksam war und sich nichts vormachen ließ. Weil er mit China redete und China mit ihm. Die fette, reiche Welt, in der er groß geworden war, war nicht von Dauer: auf Sand gebaut, nicht in Stein gemeißelt. Seine Freunde in China konnten es besonders deutlich wahrnehmen. Lu zum Beispiel hatte als Wachmann in einer Fabrik in Shilong gearbeitet, wo sie Güter für den Verkauf in England produzierten. Es hatte eine Weile gebraucht, bis Wei-Dong das wirklich begriffen hatte: Die gesamte Stadt, vier Millionen Menschen, tat nichts anderes, als Geräte für England herzustellen – ein Land mit fünfundsechzig Millionen Menschen.
Dann, eines Tages, hatten die Fabriken in Lus Nachbarschaft geschlossen. Sie hatten Güter für eine Reihe verschiedener Unternehmen hergestellt und Heerscharen junger Frauen beschäftigt, die die Maschinen bedienten und die Teile zusammensetzten. Junge Frauen bekamen immer die besten Jobs: Die Bosse mochten sie, weil sie hart arbeiteten und nicht viel diskutierten – zumindest sagte man das. Bevor Lu sein Dorf in der Provinz Sichuan verlassen hatte, um nach Südchina zu gehen, hatte er sich mit einem dieser Mädchen unterhalten. Sie war schon vor ein paar Jahren weggezogen und hatte in Dongguan ein kleines Vermögen gemacht, von dem sie ihren Eltern ein schönes, zweistöckiges Haus gekauft hatte. Jetzt kam sie jedes Jahr zum Mondfest nach Hause, in schicken Kleidern und mit einem neuen Designerhandy, und wirkte wie ein Alien oder ein Model, frisch aus der Werbung.
»Wenn in einer Fabrik nicht viele junge Mädchen arbeiten, nimm dort keinen Job an«, war ihr Ratschlag gewesen. »Wenn die nicht mehr kommen, stimmt etwas nicht.« Die Fabrik, in der Lu arbeitete, war aber – wie eigentlich alle Fabriken in Shilong – voll mit Mädchen gewesen. Männer bekamen bloß Jobs als Fahrer, Wachmänner, Reinigungskräfte oder Köche. Die Fabriken waren stetig gewachsen, hatten sich zu eigenen kleinen Städten mit eigenen Großküchen, Schlafsälen und Krankenhäusern entwickelt. Es gab sogar Zollkontrollen, wo jedes Fahrzeug und jeder Besucher genau unter die Lupe genommen wurden.
Und diese unbeugsamen Städte waren auf einmal zerfallen. Eines Montags hatte die Highest-Quality -Spülmaschinenfabrik geschlossen. Die Boilerwerke von Boundless Energy Enterprises waren am Mittwoch gefolgt. Lu sah jeden Tag die Bosse in ihren Autos rein und raus fahren, ließ sich ihre ID s zeigen und winkte sie durch. Dann, eines Tages, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und beugte sich zum Fenster, sein Gesicht nur Zentimeter von dem des Mannes entfernt, der jeden Monat seinen Lohn zahlte.
»Wir halten uns besser als die anderen, oder, Boss?« Er versuchte sich an einem jovialen Lächeln, so gut er es eben noch hinbekam, wusste aber, dass das nicht allzu gut war.
»Es geht uns gut!«, schnappte sein Boss. Er hatte völlig glatte Haut und fuhr einen schicken Sportwagen, aber seine Schultern waren voller Schuppen. »Und dass mir keiner etwas anderes behauptet!«
»Ganz, wie Sie sagen, Boss«, sagte Lu, zog sich zurück und versuchte sein Lächeln zu wahren. Aber er hatte es im Gesicht seines Bosses gesehen: Die Fabrik würde schließen.
Am nächsten Tag kam kein Bus an die Haltestelle. Normalerweise hätten fünfzig oder sechzig Leute auf den Bus gewartet, vor allem junge Männer (die Frauen schliefen in den Schlafsälen, Wachmänner und Reinigungspersonal bekamen dort aber keine Plätze). Diesen Morgen warteten nur acht Leute an der Haltestelle. Sie warteten zehn Minuten. Ein paar Nachzügler trafen ein, aber kein Bus. Eine halbe Stunde verging – Lus Schicht hätte mittlerweile angefangen – , und immer noch nichts.
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