Forbidden
Auch vor seiner akuten Pubertätskrise hat Kit jedes Mal einen Wutanfall bekommen, wenn Mum am Abend ausgegangen ist. Die Schulpsychologin sagt, dass er sich schuldig fühlt, weil Dad uns verlassen hat; dass er immer noch hofft, er würde eines Tages zurückkommen, und deswegen jeden anderen Mann, der Dads Stelle einzunehmen versucht, als eine große Bedrohung empfindet. Ich glaube, dass alles viel einfacher ist: Kit gefällt es nicht, dass die beiden Kleinen die ganze Aufmerksamkeit geschenkt bekommen, weil sie klein und süß sind, und Lochan und ich immer den Ton angeben, während er im Niemandsland dazwischensteckt, als Sandwichkind, dem der Komplize fehlt. In der Schule hat er sich jetzt den nötigen Respekt verschafft, seit er einer Clique angehört, die mittags aus der Schule schleicht, um draußen im Stadtpark heimlich Gras zu rauchen. Dafür stößt er sich jetzt zu Hause umso mehr daran, dass er hier immer noch als Kind behandelt wird. Wenn Mum abends nicht da ist, was zunehmend häufiger vorkommt, muss Lochan sie ersetzen, so war es schon immer. Lochan, auf den sie ständig alle Verantwortung ablädt, wenn sie länger arbeiten muss oder wenn sie mit Dave oder ihren Freundinnen ausgehen will.
Auf mein Klopfen kommt keine Antwort. Aber als ich dann die Treppe runtergehe, finde ich Lochan im Wohnzimmer schlafend auf dem Sofa. Ein dickes Schulbuch liegt aufgeschlagen auf seiner Brust, der Teppich ist mit vollgekritzelten Blättern übersät, lauter mathematische Gleichungen in seiner dünnen, krakeligen Schrift. Ich löse das Buch aus seinen Fingern, lege alle seine Sachen ordentlich auf den Couchtisch und breite ihm die Decke vom Fußende des Sofas vorsichtig über den Körper. Dann setze ich mich in den Sessel gegenüber, ziehe die Beine an, lege das Kinn auf die Knie und betrachte ihn im Schlaf. Von draußen fällt durch die vorhanglosen Fenster das weiche orangefarbene Licht der Straßenlaternen herein.
Bevor es in meinem Leben irgendetwas anderes gab, gab es immer schon Lochan. Wenn ich die ganze Zeit zurückdenke, alle sechzehneinhalb Jahre, war Lochan immer da. Er ging neben mir her zur Schule, er schob mich in halsbrecherischer Geschwindigkeit in einem Einkaufswagen über den leeren Parkplatz, er eilte mir zu Hilfe, als ich auf dem Pausenhof einmal die ganze Klasse gegen mich aufbrachte, weil ich Miss Superbeliebt aus meiner Klasse eine dumme Kuh genannt hatte. Ich erinnere mich noch genau, wie er damals dastand; mit geballten Fäusten und einem unglaublich stolzen Ausdruck im Gesicht forderte er alle anderen Jungen, obwohl ihm zahlenmäßig weit überlegen, zum Kampf heraus. Und mir war plötzlich klar, dass ich nichts und niemanden fürchten musste, solange ich Lochan hatte. Aber damals war ich acht. Seither ist viel Zeit vergangen, und ich bin älter geworden. Ich weiß jetzt, dass Lochan nicht immer da sein wird, dass er mich nicht für immer schützen kann. Und obwohl er vorhat, am University College in London zu studieren, und sagt, dass erweiter bei uns wohnen will, könnte es immer noch sein, dass er seine Meinung ändert. Er könnte erkennen, dass dies seine große Chance ist, all dem hier zu entkommen. Ein Leben ohne ihn habe ich mir bisher noch nie ausgemalt – genauso wenig wie ohne dieses Haus. Er ist mein einziger fixer Bezugspunkt in diesem schwierigen Leben, in dieser unsicheren und Angst machenden Welt. Der Gedanke daran, dass er von hier ausziehen könnte, jagt mir einen solchen Schrecken ein, dass ich einen Augenblick keine Luft bekomme. Ich fühle mich wie eine Möwe, der die Ölpest das Gefieder verklebt, mir ist, als würde ich im schwarzen Teer aus Angst ersticken.
Wenn er schläft, sieht Lochan wieder wie ein kleiner Junge aus – tintenbekleckste Finger, schmutziges graues T-Shirt, abgewetzte Jeans, barfuß. Die Leute sagen immer, wir sehen uns unglaublich ähnlich. Aber ich finde das gar nicht. Das fängt schon damit an, dass er als Einziger von uns hellgrüne Augen hat, so klar wie geschliffenes Glas. Seine fransigen, schulterlangen schwarzen Haare hängen ihm vorne tief in die Stirn. Seine Haut ist noch immer braun gebrannt vom Sommer, auch an den Oberarmen, die allmählich muskulöser werden, das kann ich selbst in dem schwachen Dämmerlicht erkennen. Sein Körper wird allmählich athletischer. Lochan ist erst spät in die Pubertät gekommen, und eine Zeit lang war ich sogar größer als er, womit ich ihn gnadenlos aufgezogen habe. »Mein kleiner Bruder« habe ich ihn
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