Forbidden
lang mit niemandem. Einmal entdecke ich am anderen Ende der Cafeteria Maya. Sie deutet kurz auf das Mädchen neben ihr, das wie immer ununterbrochen auf sie einquasselt, und zuckt mit den Schultern. Ich lächle. Während ich mir zwischen den vielen Mündern voll Hackfleisch-Kartoffel-Auflauf hindurch meinen Weg bahne, beobachte ich sie, wie sie so tut, als würde sie ihrer Freundin Francie zuhören, während sie weiter zu mir herüberschaut und Grimassen schneidet, um mich zum Lachen zu bringen. Ihr weißes Schulhemd, mehrere Nummern zu groß, hängt locker über ihren viel zu kurzen grauen Rock. Sie hat ihre weißen Turnschuhe an, weil sie ihre richtigen Schuhe seit ein paar Tagen nicht mehr findet. Sie trägt sie ohne Strümpfe, und auf ihrem linken Knie hat sie ein großes Pflaster, umgeben von Schürfwunden. Ihre rotbraunen glatten, langen Haare reichen ihr bis zur Hüfte, sie erinnern mich an Willa. Ihr Gesicht ist voller Sommersprossen, die ihre blasse Haut noch betonen, und in ihren tiefblauen Augen liegt ein Glanz, als würde sie immer lächeln, selbst wenn sie ganz ernst blickt. Im vergangenen Jahr ist ein Wandel mit ihr vorgegangen. Sie ist jetzt nicht mehr hübsch, sondern schön. Auf eine ungewöhnliche, zarte, unaufdringliche Weise schön. Die Jungs quatschen sie ohne Ende an – was mir Sorgen macht.
Nach dem Mittagessen schnappe ich mir meine Schulausgabe von Romeo und Julia , das ich schon vor Jahren gelesen habe, und verziehe mich auf die nördliche Außentreppe vor dem Naturwissenschaftsgebäude, wo am wenigsten los ist. Vierte Stufe von oben. So verbringe ich die sinnlosen und vergeudeten Stunden meines Lebens, die immer mehr werden, genau wie meine Einsamkeit. Ich habe das Buch aufgeschlagen auf den Knien liegen, falls jemand kommen sollte, aber ich habe keine große Lust, das Stück noch einmal zu lesen. Stattdessen beobachte ich von meinem Posten auf der Treppe aus ein Flugzeug, das als weißer Pfeil über den dunkelblauen Himmel zieht. Ich blicke auf das Flugzeug, das durch die Entfernung zu einem winzigen Punkt geworden ist, und staune über die riesige Entfernung zwischen all den Menschen, die dort im Innern dicht gedrängt sitzen, und mir.
Viertes Kapitel
Maya
»Wann stellst du mich ihm endlich vor?«, fragt Francie. Wir stehen wie immer an unserem Platz am Ende des Schulhofs, direkt an der niedrigen Backsteinmauer, und sie hat bemerkt, wie mein Blick zu der einsamen Gestalt gewandert ist, die dort auf der Treppe des Naturwissenschaftsgebäudes sitzt. »Hat er immer noch keine Freundin?«
»Ich hab dir eine Million Mal gesagt, dass er keine fremden Menschen mag«, antworte ich. Ich schaue sie an. Sie strahlt eine unglaubliche Energie aus, eine Lebensfreude, wie sie für extrovertierte Menschen ganz selbstverständlich ist. Unvorstellbar, dass sie mit meinem Bruder zusammen sein könnte. »Woher willst du denn wissen, dass du ihn überhaupt magst?«
»Er ist so verdammt sexy!«, ruft Francie voller Inbrunst.
Lächelnd schüttle ich den Kopf. »Aber ihr zwei habt gar nichts gemeinsam.«
»Wie meinst du denn das?« Sie wirkt auf einmal verletzt.
»Er hat mit keinem Menschen etwas gemeinsam«, sage ich hastig. »Er ist einfach so anders. Er – er spricht nicht mit Leuten.«
Francie wirft ihre Haare zurück. »Ja, hab so was läuten hören. Schweigsam wie das Grab. Leidet er unter einer Depression?«
»Nein.« Ich wickle eine Haarsträhne um meinen Finger. »Sie haben ihn letztes Jahr hier an der Schule zu einer Psychologin geschickt, aber das war reine Zeitverschwendung. Zu Hause spricht er. Das hat er nur mit Leuten, die er nicht kennt, dass er nicht spricht. Leute außerhalb der Familie.«
»Na und? Dann ist er einfach schüchtern.«
Ich seufze. »Das wäre stark untertrieben.«
»Welchen Grund hat er denn, schüchtern zu sein?«, fragt Francie. »Schaut er denn nie in den Spiegel?«
»Das ist nicht nur mit Mädchen so«, versuche ich ihr zu erklären. »Es geht ihm so mit allen Menschen. Er bringt es noch nicht mal fertig, auf eine Frage zu antworten, die im Unterricht gestellt wird. Es ist so was wie eine Phobie.«
Francie pfeift ungläubig zwischen den Zähnen hindurch. »Mein Gott, wie schrecklich! War er schon immer so?«
»Weiß ich nicht.« Ich höre einen Moment auf, mit meiner Haarsträhne herumzuspielen, und denke nach. »Als wir klein waren, haben wir uns wie Zwillinge gefühlt. Wir sind nur dreizehn Monate auseinander, deshalb haben sowieso alle Leute geglaubt,
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