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Forbidden

Forbidden

Titel: Forbidden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tabitha Suzuma
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hineingewachsen. Es ist in mich hineingewuchert. Wir verschwammen an den Rändern ineinander, wurden zu einem amorphen, einsickernden, immer tiefer krabbelnden Ding. Manchmal gelingt es mir, mich abzulenken, mich auszutricksen, mich loszureißen, mich davon zu überzeugen, dass mit mir alles in Ordnung ist. Zu Hause zum Beispiel, mit meinen Geschwistern, da bin ich wieder ich selbst, da kann ich ganz normal sein. Bis das gestern Abend passierte; bis das Unvermeidliche geschehen ist; bis sich durch Kit auch dorthin die Nachricht herumgesprochen hat, dass Lochan Whitely ein völlig verhaltensgestörter Sozialspastiker ist. Obwohl Kit und ich nie besonders gut miteinander klargekommen sind, breitet sich bei dem Gedanken, dass er sich für mich schämen könnte, ein schier unerträgliches Gefühl derVerzweiflung in mir aus. Mir ist, als würde auf einmal der Boden unter meinen Füßen wegkippen. Ich fühle mich, als befände ich mich auf einem glitschigen Abhang und rutschte unaufhaltsam in die Tiefe. Ich weiß, wie es ist, sich für jemanden, der einem nahesteht, zu schämen – wie oft habe ich mir gewünscht, meine Mutter würde sich, wenn schon nicht zu Hause, wenigstens in der Öffentlichkeit ihrem Alter entsprechend verhalten. Es ist grässlich, sich für jemanden zu schämen, den man mag; es frisst einen auf. Und wenn man dieses Gefühl überhandnehmen lässt, wenn man die Waffen streckt und aufgibt, dann wandelt sich die Scham schließlich in Hass.
    Ich will nicht, dass Kit sich für mich schämen muss. Ich will nicht, dass er mich hasst, obwohl ich manchmal das Gefühl habe, dass ich ihn hasse. Aber dieses kleine, chaotische Bündel aus Wut und Trotz ist immer noch mein Bruder. Er gehört zu meiner Familie. Familie: wichtiger als alles. Meine Geschwister machen mich manchmal wahnsinnig, doch sie gehören zu mir. Sie sind alles, was ich habe. Meine Familie, das bin ich. Sie sind mein Leben. Ohne sie wäre ich einsam und verlassen.
    Alle anderen Menschen um mich herum sind Fremde, sie gehören nicht dazu. Sie werden sich nie in Freunde verwandeln. Und selbst wenn sie das täten, wenn es mir durch irgendein Wunder plötzlich gelingen würde, zu jemandem außerhalb der Familie eine Beziehung aufzubauen – wie könnte so jemand mit den Menschen mithalten, die meine Sprache sprechen und wissen, wer ich bin, ohne dass ich es ihnen erklären muss? Selbst wenn es mir gelänge, den Augen der anderen zu begegnen, selbst wenn es mir gelänge, mit ihnen zu reden, ohne dass die Wörter sich mir in der Kehle zusammenklumpen und es nicht bis nach draußenschaffen, selbst wenn ihre Blicke mir nicht Löcher in die Haut brennen und in mir den Wunsch auslösen würden, eine Million Kilometer davonzurennen – wie könnten sie mir jemals so wichtig sein wie meine Brüder und meine Schwestern?
    Die Glocke klingelt, und ich bin einer der Ersten, der aufsteht, um abzugeben. Als ich an den Tischreihen der anderen Schüler vorbeigehe, habe ich das Gefühl, dass sie alle hochblicken und mir nachsehen. Einen Moment lang sehe ich mich durch ihre Augen: der Junge, der sich immer ganz hinten im Klassenzimmer versteckt, der nie spricht, der in den Pausen immer allein auf einer der Treppen draußen sitzt, über ein Buch gebeugt. Der Junge, der nicht weiß, wie man mit anderen redet, der stumm den Kopf schüttelt, wenn er im Unterricht aufgerufen wird, der nie in einer Arbeitsgruppe mitmacht oder ein Referat hält. Das geht nun schon so viele Jahre so, dass sich alle daran gewöhnt haben. Sie lassen mich einfach in Ruhe. Als ich neu hierhergekommen bin, haben sie mich dauernd damit aufgezogen und provozieren wollen, aber irgendwann hatten sie genug davon. Manchmal bemüht sich ein neuer Schüler, mit mir ein Gespräch anzufangen. Und ich habe es versucht, ich habe es wirklich versucht. Aber wenn man nicht mehr als einsilbige Antworten zustande bringt, wenn einem schließlich die Stimme ganz versagt, was soll man dann noch tun? Was sollen die anderen dann noch tun? Und mit Mädchen ist es noch viel schlimmer, erst recht in der letzten Zeit. Sie versuchen es hartnäckiger, sie haben viel mehr Ausdauer. Manche fragen mich sogar, warum ich nichts rede. Als ob ich darauf eine Antwort geben könnte. Sie versuchen, mit mir zu flirten und mir ein Lächeln zu entlocken. Sie meinen es gut, aber sie begreifen nicht, dass ihre bloße Gegenwart mich fast schon umbringt.
    Doch heute lassen mich zum Glück alle in Ruhe. Ich spreche den ganzen Vormittag

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