Forellenquintett
Ecke. Ohne erkennbare Reaktion las sie den Brief und behielt ihn dann in der Hand.
»Hast du mir einen Umschlag?«, fragte sie, »oder ein Heft, wo ich das da reinlegen kann?«
»Ich weiß nicht«, wandte Audrey ein, »ob ich das irgendjemand anderem zeigen will.«
»Darum geht es nicht«, sagte Marlen. »Wer das geschrieben hat, der droht deinen Kindern. Und damit ist er ein Fall für die Kriminalpolizei. Du musst mir diesen Brief mitgeben.«
Eilige Schritte näherten sich, Marlen blickte auf, und diesen einen winzig kurzen Moment nützte Audrey, um den Brief wieder an sich zu nehmen.
Die Tür öffnete sich, in weißen Hosen und weißem Arztkittel stürzte Severin Hauerz herein und baute sich schützend vor seiner Frau auf.
»Ich bitte sehr um Entschuldigung«, sagte er mit einer Stimme, der man die Anstrengung anhörte, nicht ins Schreien zu verfallen, »aber Audrey ist nicht nur meine Frau, sondern meine Patientin, und das hat man bitte zu respektieren, auch wenn man von der Polizei ist.«
Marlen stand auf und setzte zu einer Widerrede an. Dann sah sie, dass Audrey ihr einen flehentlichen Blick zuwarf und fast verzweifelt den Kopf schüttelte.
»Offenbar finden Sie nicht die richtigen Worte«, hörte sich Marlen sagen, dann nickte sie Audrey zu, drehte sich um und ging zur Tür.
»Was für eine Unverschämtheit ist das nun wieder?«, fragte Dr. Hauerz in ihrem Rücken. Sie ging weiter und war bereits an der Türe mit dem schmiedeeisernen Gitter, als der Arzt sie eingeholt hatte und am Arm festhielt.
»Was haben Sie gerade gemeint? Was sind nicht die richtigen Worte?«
Mit einer abrupten Bewegung löste Marlen ihren Arm aus seinem Griff. »Warum sagen Sie nicht, dass Audrey Ihre Gefangene ist?«
Als sie ihren Wagen aufschloss, kam ihr der Einwand in den Sinn, dass Polizisten sich so nicht aufführen sollten.
Aber heute war sie keine Polizistin. Und morgen auch nicht. Sie war beurlaubt.
A n der Ufermauer spielte der Wind mit Tamars Haaren und ließ die Drahtseile gegen das Aluminium der leeren Fahnenmasten klirren. »An der linken Seite des Frühstückszimmers sitzen zwei Männer«, sagte Tamar, die mit raschen Schritten an der seeseitigen Fensterfront des Hotels Seehof vorbeigegangen war, Ramiz im Gefolge. »Ein älterer, mit braunem Haar, rechts trägt er immer einen Handschuh...«
»War auch zwische Hund?«, fragte Ramiz. »Hund musse treten...«
»Nein«, sagte Tamar, »es war kein Hund. Dem Mann gegenüber sitzt ein Jüngerer, mit kurzem blondem Haar. Sein Sekretär. Vielleicht ist er nur sein Chauffeur. Trotzdem sehen Sie ihn sich bitte genau an, und folgen Sie ihm, wenn er das Hotel verlässt.«
»Und dann frage, ob er Frau...?« Ramiz sprach nicht zu Ende, sondern fuhr sich mit der Handkante über den Hals.
»Nein, Sie fragen ihn noch nichts«, beschied ihn Tamar. »Wenn der Chauffeur den Mann auf dem Bild gefunden hat, rufen Sie mich an.«
»Aber wenn ich frage, er rede«, versicherte Ramiz und schaute mit einem kleinen, fast verschämten Lächeln zu ihr hoch.
»Später«, antwortete Tamar und nickte ihm zu. Ramiz hob grüßend die Hand und wandte sich zurück zum Seehof.
Tamar ging weiter, sie war jetzt auf Höhe des Stifts. Die Frage, was sie als Nächstes tun solle, war im Grunde schnell beantwortet. Sie musste ihre Pistole wiederfinden. Falls die Kollegen das nicht schon besorgt hatten. Und dann würde sie die nächsten Stunden mit dem Abfassen von Erklärungen und dienstlichen Stellungnahmen zu dem Schusswaffengebrauch gestern Nacht beschäftigt sein, und vermutlich würde sie auch noch ihren Vorgesetzten in Ulm, den Kriminalrat Englin, in Kenntnis setzen müssen, ach! wäre sie doch ein Eremit geworden in irgendwelchen Ardennenwäldern!
Sie bog um das Stift, vor ihr lag der Marktplatz, er sah belebter aus als sonst, aber vielleicht lag das nur an dem Aufgebot von Polizeifahrzeugen, das vor dem Stift und vor Jehles Schreibwarenladen herumstand.
A m vergitterten Fenster des kleinen Zimmers, das dem Schreibwarenhändler Martin Jehle als Büro diente, lehnte der Leitende Polizeidirektor v. Oerlinghoff, die Arme verschränkt, und blickte auf Stefanie, die auf einem Hocker vor Jehles Schreibtisch saß und aus ungerührten blaugrünen Augen zu ihm aufsah.
»Wir haben einen Spaziergang gemacht, am See, darf man doch wohl noch, seine Eltern haben es erlaubt, wieso müssen das seine Eltern überhaupt erlauben? Der Bastian ist doch kein Kind mehr …«
»Ein
Weitere Kostenlose Bücher