Forellenquintett
Oberschwester.
Walliser las.
Hoch ist die Leiter, tief ist der Fall, dass mancher keinen Sinn mehr reden kann
Walliser ließ das Blatt wieder sinken und betrachtete die Oberschwester. »So ganz versteh ich das nicht.«
»Vielleicht hat es dem Briefschreiber genügt, dass unsere arme Olga es verstehen würde«, meinte Regula Freundlein.
»Und worauf hat er da angespielt?«
»Das haben vielleicht nur die beiden gewusst«, kam die Antwort, und es klang fast ein wenig schnippisch. »Es muss eine Geschichte von früher sein. Da soll es ja Sachen geben, die plötzlich wieder auf den Tisch kommen. Übrigens: wegen Ihrer Schulter sollten Sie es mal mit Akupunktur versuchen …«
Sie unterbrach sich, denn Wallisers Mobiltelefon hatte zu klingeln begonnen.
A n der Kaffeetheke der Bäckerei schäumte Bärbel, die Verkäuferin, die Milch auf und drehte sich dabei neugierig um. »Ihr sucht wieder den Bastian, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Marlen mechanisch, »die suchen den Bastian.«
»Und was musst du dabei tun?«
»Nichts. Ich hab Urlaub.«
»Ach!«, sagte Bärbel. »Jetzt ist es einmal richtig spannend, und dann hat man Urlaub.«
Marlen nahm den Becher mit dem Milchkaffee und ging zu dem Tischchen am Fenster. Auf dem Marktplatz standen Gruppen von Uniformierten, Polizeischüler aus Biberach zumeist, und drei Hundeführer mit ihren Tieren. Vermutlich wollen sie nachher das Ried absuchen, dachte sie, und mit Holzstäben in jedem Laubhaufen stochern, ob ein Toter darunterliegt.
Aus dem Stift lief ein älterer Mann und rannte mit wehendem Mantel über den Marktplatz, dann erkannte sie ihn, der Mann war Walliser, wie blöd das aussieht, wenn so ein alter Esel noch rennen will!
»Geben die den Hunden was zu riechen, damit die auch was finden? Socken vom Bastian oder Unterwäsche?«
»Ja«, antwortete Marlen und biss ein Stück von ihrem Croissant ab, »irgend so was.«
»Und wo suchen die dann? An der Aesche oder im Ried?«
Kauend nickte Marlen. Mit Blaulicht und Martinshorn bog ein einzelner Streifenwagen auf den Marktplatz ein und hielt vor Jehles Laden. Rösner sprang heraus.
»Du«, sagte Bärbel, »die haben was gefunden. Glaubst du …?«
Am unteren Ende des Marktplatzes erschien eine einzelne Frau und ging auf das Schreibwarengeschäft zu.
O erlinghoff trat aus dem Schreibwarenladen und sah Walliser entgegen, der zwischen einer Gruppe von Polizeischülern hindurch auf ihn zuhastete.
»Nur immer Ruhe bei die jungen Pferde!«, sagte er. »Wo waren Sie denn?«
Walliser wies mit dem Kopf zurück, in Richtung Stift. »Ein anonymer Brief an eine Heimbewohnerin.«
»Ein Brief, ja?«
»Sie hat sich so darüber aufgeregt, dass sie gestorben ist. Trotzdem weiß ich nicht, warum das ein Fall für mein Dezernat sein soll.«
»Dabei wäre das endlich mal was Subtiles. Das Wort als Tatwaffe, das hat doch was«, sagte Oerlinghoff. »Was ich Ihnen an dessen Stelle anbieten kann, ist vergleichsweise banal. Ein Mann ist totgeschossen worden. Langweilig, was? Aber es fällt in Ihr Dezernat, ganz bestimmt.«
Walliser sah ihn unsicher an. »Sie scherzen nicht zufällig, Chef?«
»Ich scherze nie«, antwortete Oerlinghoff und sah über ihn hinweg auf den Platz. Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck, seine Züge strafften sich, und die Augen wurden schmal.
Was hat er?, dachte Walliser und drehte sich um. Tamar Wegenast kam auf sie zu, den rechten Arm in der Schlinge, und wünschte einen guten Morgen.
»Guten Morgen.« Oerlinghoff deutete eine Verbeugung an. »Haben Sie Ihre Waffe gefunden?«
»Nein. Ich dachte, Sie würden danach suchen lassen.«
»Das habe ich so nicht verstanden«, antwortete Oerlinghoff. »Ich würde mir auch kaum solche Aufträge erteilen lassen.« Er lächelte knapp. »Aber trotzdem haben wir sie gefunden. Allerdings nicht dort, wo Sie behauptet haben, Sie hätten sie verloren. Frau Wegenast, ich nehme Sie fest wegen des dringenden Verdachtes, den siebenundzwanzigjährigen Kevin Orschach aus Fürstenberg vorsätzlich getötet zu haben.«
R ösner hielt die Wagentüre auf, bis Tamar eingestiegen war, die linke Hand über ihrem Kopf, damit sie sich nicht am Türrahmen stoßen konnte. Dann schlug er die Tür zu und ging um den Wagen herum und setzte sich neben sie.
Kubitschek startete und fuhr durch eine Gasse von Polizeischülern, die fremd und glotzäugig und unbeteiligt, wie Fische in einem Aquarium, durch die Scheiben des Streifenwagens
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