Forellenquintett
Spaziergang«, wiederholte Oerlinghoff. »Am See. Im Oktober. Abends. Und wann haben Sie festgestellt, dass er kein Kind mehr ist?«
»Das sagt man doch so«, erwiderte Stefanie ungerührt. »Wenn einer erwachsen ist, dann ist er kein Kind mehr.«
»Also am See entlang. Und wohin dann?«
»Nirgendwohin. Wir sind über die Promenade gegangen, am Seehof vorbei und haben uns die Gäste angesehen, und plötzlich ist er ausgerastet und wollte weg, dass man ihn nicht sieht, obwohl man von da drin die Leute draußen auf der Promenade gar nicht sehen kann...«
»Moment«, unterbrach sie Oerlinghoff, »Sie haben sich die Gäste angesehen? Warum?«
»So halt. Was es für Leute sein könnten. Ob sie verheiratet sind. Was sie hier vorhaben.«
»Ah ja. Und haben Sie eine Idee, was das war, das ihm einen solchen Schrecken eingejagt hat?«
»Woher soll ich das wissen? Er redet ja nicht.«
»Wirklich nicht? Auch nicht, wenn es erwachsen zugeht?«
Stefanie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Versuchen wir es mal anders«, sagte Oerlinghoff. »Was für Gäste waren es denn, die Sie da beobachtet haben?«
»Das weiß ich jetzt auch nicht mehr so genau … Da waren Männer da, die sahen aus wie Vertreter oder so etwas, und Ehepaare oder Paare eben, im Spätherbst hat es ja noch immer Feriengäste hier in Aeschenhorn, und ein jüngerer Mann in einer schwarzen Lederjacke war auch da, ich kann es Ihnen zeigen, wo der gesessen hat, da hat man nicht gewusst, was will der hier, er ist kein Feriengast und ein Vertreter auch nicht.«
»Und Sie meinen, wegen diesem Mann in der Lederjacke ist er weggelaufen?«
»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich es nicht weiß. Er hat mich erst weggezerrt, und dann ist er davongelaufen, und ich bin ihm nach, und dann hat er mich weggestoßen, mit beiden Händen weggestoßen, und als ich noch immer nicht hab gehen wollen, hat er einen Stein aufgehoben und gedroht, dass er ihn nach mir wirft...«
Schon die letzten Worte hatte sie nur mit von Tränen erstickter Stimme hervorgebracht, nun begann sie zu heulen.
An der Tür klopfte es. »Nur herein!«, rief Oerlinghoff erleichtert. Ins Zimmer trat ein Polizeibeamter mit einem Mobiltelefon in der Hand: »Kubitschek und Rösner haben einen Toten gefunden … Wollen Sie mit ihnen reden?«
R egula Freundlein, die Oberschwester im Stift Aeschenhorn, warf einen nachdenklichen Blick auf ihren Besucher, dann hob sie den Deckel ihres Schreibpultes an und nahm einen zerknitterten Brief heraus, den man von Hand zu glätten versucht und schließlich in eine Klarsichtfolie gesteckt hatte.
»Natürlich war es dumm von mir, dass ich den Brief glatt streichen wollte«, sagte sie. »Sie werden jetzt jede Menge Fingerabdrücke von mir finden.«
»Wer hat ihn denn überhaupt so zerknüllt?«, wollte Walliser wissen und nahm den Brief widerstrebend an sich.
»Sie selbst vermutlich«, sagte Regula Freundlein. »Als ich heute Morgen gerufen worden bin, habe ich sofort gesehen, dass unsere gute Freundin Olga heimgegangen war. Ganz überraschend kam das nicht, natürlich haben wir den Arzt gerufen, und ich habe ihr die Augen zugedrückt …. ach, was man so macht am Totenbett, und als ich ihr die Hände über der Brust zusammengelegt habe, da hab ich den Brief erst gesehen. Sie hatte ihn noch in der Hand...«
»Und dann haben Sie ihn herausgenommen und glatt gestrichen«, sagte Walliser. »Das kann ich gut verstehen, Sie mussten ja erst wissen, was drinsteht.« Er holte seine Lesebrille heraus und betrachtete den Brief. »Aber das mit der Klarsichthülle haben Sie gut gemacht.«
»Ich glaube«, sagte Regula Freundlein, »dieser Brief ist von jemand geschrieben, der sonst eine sehr ordentliche Handschrift hat und der jetzt aber so tut, als müsse er jeden einzelnen Buchstaben malen. Sie haben doch sicher graphologische Gutachter bei der Polizei? Sie müssen jetzt nur Schriftproben vom Verdächtigen finden, und dann haben Sie ihn sofort überführt.«
»Schon«, meinte Walliser. »Aber wer ist der Verdächtige?«
Oberschwester Regula warf ihm einen strafenden Blick zu. »Aber Herr Kommissar, ich werde Ihnen doch nicht in Ihre Arbeit pfuschen! Haben Sie eigentlich Schmerzen in der rechten Schulter, vor allem, wenn Sie eine rasche Bewegung machen?«
»Ja«, antwortete Walliser irritiert, »nicht nur dann, immer, wie kommen Sie darauf? Ich wollte eigentlich diesen Brief lesen …«
»Aber bitte«, sagte die
Weitere Kostenlose Bücher