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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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dessen Füßen Pulte mit brennenden Kerzen standen. Wer einsam ist, dachte sie, hat Ruhe vor den anderen Leuten. Das hat sehr viel für sich. Er hat also sich selbst zur Gesellschaft. Das freilich ist weniger lustig.
    »Was mit deine Arm?«, flüsterte eine Stimme neben ihr. Sie gehörte einem kleinen, etwas dicklichen Mann mit nach hinten gekämmtem dunklem Haar und flinken braunen Augen, der jetzt neben ihr auf der Bank Platz nahm. Sie hatte nicht gehört, dass sich die Kirchentür geöffnet hätte. Offenbar hatte er schon die ganze Zeit in der Kirche gewartet.
    »Er ist zwischen einen Hund geraten«, antwortete Tamar. »Sie sind Ramiz?«
    »Hund musse treten«, bemerkte der Mann. »An Kopf. Gucke.« Er stand auf und machte mit seinem rechten Fuß eine schlenzende Bewegung, als wolle er dem Heiligen St. Jodok einen Elfmeter in den Altar hämmern.
    »Nett«, meinte Tamar. »Was kann ich eigentlich für Sie tun?«
    »Nein«, widersprach Ramiz und setzte sich wieder, »du sage, was ich tun.«
    Tamar sah ihn an. Ich weiß ja nicht einmal, was ich selber tun soll, dachte sie. Kurz entschlossen, aber mit einiger Mühe zog sie aus ihrer linken Jackentasche das zusammengefaltete Phantombild des Mannes, der in Krakau auf dem Weg zu Milena Kwiatkowski gesehen worden war.
    Sie beugte sich zu Ramiz und zeigte ihm das Bild.
    »Dieser Mann ist wichtig für Berisha und für mich. Er war gestern Nacht hier in Aeschenhorn. Ein junger Mann wird versuchen, zu ihm zu gehen.« Sie deutete mit dem Daumen nach rechts, in die ungefähre Richtung, in welcher der Seehof lag. »Der junge Mann wohnt in dem Hotel am Marktplatz. Er ist zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt.«
    »Du kein Bild?«
    »Nein, aber vielleicht kann ich ihn Ihnen zeigen. Kommen Sie.«
    Sie stand auf und warf noch einen letzten Blick zu St. Jodok.
    Aber der Heilige lächelte nur fromm. Räum deine Scheiß-Geschichten selber auf, sagte das Lächeln.
     
     
     
    D ie Terrassen der Appartement-Anlage Säntisblick brachten es an diesem Morgen fertig, noch verlassener auszusehen als in der Nacht. Kubitschek stellte den Streifenwagen in der Auffahrt vor dem Haupteingang ab, die überdacht war wie bei einem Grandhotel, und warf einen missvergnügten Blick auf seinen Kollegen.
    »Hast du den Schlüssel?«
    Rösner gab den Blick schweigend zurück und würdigte ihn keiner Antwort.
    »Noch mal Scheiß können wir uns nicht leisten«, fuhr Kubitschek streitlustig fort.
    »Ach!« Rösner brach sein Schweigen. »Auf einmal sollen wir keinen Scheiß mehr machen, ja? Und wer baut laufend welchen?«
    »Ich kenn da einen«, sagte Kubitschek gedehnt, »der hat gestern seinen Kaugummi einem Hirnversehrten ins Auge schnippen müssen...«
    »Da wirst du die nächsten fünf Dienstjahre davon zehren, was?«, wehrte Rösner ab und stieg aus.
    »Und zwar hat er sich in diesem Nest voller Hirnversehrter den allerschlimmsten davon aussuchen müssen«, fuhr Kubitschek unbeirrt fort, »nur um seinen Kaugummi zu entsorgen.«
    Rösner schloss die Eingangstür auf und trat ein. Vor ihm öffnete sich eine große halbdunkle Halle, mit Marmorboden ausgelegt, die Stuckdecke von Säulen getragen.
    »Vornehm, was?«
    »Bleib mal stehen«, meinte Kubitschek und drückte auf den Beleuchtungsknopf. Eine Lichtflut erfüllte das Foyer, und vor ihnen spiegelte sich ein Kronleuchter im polierten Marmor. »Die Spuren da!«
    Quer über den Boden bis zur Treppe zogen sich lehmige Abdrücke, und direkt vor Rösner waren die Umrisse eines Schuhes zu erkennen.
    »Ich denke, wir sollten das fotografieren.«
    »Wir sollen nicht denken«, antwortete Rösner, »sondern den Kerl holen, der angeblich da oben im Appartement sechsundvierzig hockt. Anweisung vom obersten Chef. Und von Fotografieren hat er auch kein Wort gesagt.«
    »Dann latsch wenigstens nicht darüber«, meinte Kubitschek und ging an den Säulen entlang zu den Fahrstühlen. Rösner folgte. Sie fuhren in den vierten Stock, das Appartement 46 lag rechts, Rösner wollte darauf zugehen, als Kubitschek ihn am Arm zurückhielt. »Da!«
    Die Lehmspur war nur noch ein kleiner bröckeliger Streifen. Aber wer sie hinterlassen hatte, der war in die gleiche Richtung gegangen.
    »Hör auf«, sagte Rösner. »Das hat nicht die geringste Bedeutung. Der Kerl, den wir holen sollen, war vermutlich in die Schlägerei mit der Ruoff verwickelt. Das war am Uferweg, weißt du? Da ist nämlich eine Baustelle, und da hat er sich jede Menge Dreck eingefangen.« Er ging um die

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