Forellenquintett
Rosensträucher, aber das war nicht das, worüber sie sprachen, sondern sie sprachen über die Frau, die drin in diesem Haus saß, trübsinnig und zu nichts nütze.
Patricks Brabbeln wurde ärgerlich. Gleich würde er schreien. Sie löste die Hände von der Spüle und drehte den Wasserhahn wieder zu. Durch das Fenster sah sie, dass der Postbote mit seinem Rad die Einfahrt hochkam. Sie ging in das Esszimmer zurück, kniete sich hin und hob ihren Sohn hoch und ging mit ihm in sein Kinderzimmer. Sie zog ihm die Windelhose aus und machte ihn sauber, wenigstens das schaff ich noch, dachte sie dabei. In Patricks Gesicht war ein feistes Lächeln aufgegangen, sie versuchte es zu erwidern.
»Wenn es meinem Scheißerchen nur gut geht«, sagte sie und nahm ihn wieder auf den Arm. Von der Praxis her näherten sich rasche, leichte Schritte, es hörte sich nach Sonja an, dann klopfte es an der Wohnungstür.
»Moment«, rief Audrey und ging langsam zur Tür, noch immer Patrick auf dem Arm.
Tatsächlich war es Sonja mit dem Pagenkopf, adrett wie immer, und wie immer lächelte sie fröhlich und arglos, als ob Audrey nicht ganz genau wüsste, dass es nur noch Wochen oder Tage dauern würde, bis sie zum ersten Mal mit Severin schlafen würde.
Falls sie es nicht schon längst getan hatte.
»Ist der Patrick aber wieder ein Schatz heute«, sagte Sonja und strahlte den Buben an, »so richtig zum Reinbeißen!«
»Ja?«, fragte Audrey.
»Bei der Post war ein Brief für Sie«, sagte Sonja eilig, »er sieht irgendwie persönlich aus, da dachte ich, ich bring ihn Ihnen gleich.«
Audrey zwang sich, »Danke« zu sagen. Und hielt ihr die Hand hin. Sonja legte den Brief hinein. »Also dann«, sagte sie und winkte Patrick zu, »ciao, ciao, Süßer!«
Audrey ging ins Kinderzimmer zurück und setzte Patrick in seinem Kinderbett ab. Der Brief war in einer ihr fremden Handschrift adressiert, aber an dem Umschlag war nichts Besonderes, was hatte Sonja da von »sehr persönlich« zu reden? Das war doch schon wieder die schiere Unverschämtheit.
Sie riss den Umschlag auf. Er enthielt ein einzelnes Blatt, eine halbe DIN-A4-Seite groß. Auf einen Blick sah sie, warum ihr die Handschrift unbekannt sein musste. Es war eine verstellte Schrift, die eines Erwachsenen, der tut, als schriebe er wie ein Schüler. Der Brief hatte kein Datum, keine Anrede und keine Unterschrift. Sie las:
Ein Kind hattest du schon.
Jetzt hast du ein zweites, hört man.
Das ist gut.
Wenn das eine verloren geht, hast du immer noch das andere.
Und wie leicht das passieren kann, dass ein Kind verloren geht,
das weißt du doch.
Audrey drehte das Blatt herum, die Rückseite war unbeschrieben. Sie sah sich um, dann ging sie zum Fenster, als wolle sie sich vergewissern, dass niemand ihr beim Lesen des Briefes zugesehen hatte.
V or dem Portal von St. Jodok wartete niemand. Tamar zögerte kurz und überlegte, ob Ramiz sich jetzt vielleicht vor einem neu-apostolischen Gemeindesaal die Beine in den Leib stand. Aber das war nicht ihr Problem.
An Problemen hatte sie genug andere. Eines davon war, dass Schatte Recht hatte. Sie war ausgerastet. Kein gutes Zeichen. Noch einmal lief die Szene vor ihr ab, soweit das Gedächtnis eine solche Szene in der Rückblende abspielen kann. Der junge Mann stand vor ihr, wie lange? Schon das konnte sie nicht mehr rekonstruieren. Dann hatte sie ihm den Teller mit dem Rührei ins Gesicht geklatscht, das war eindeutig, und das Rührei lief an ihm herunter, sie sah es vor sich, und er wischte es sich ab …
Sie holte, mit der linken Hand und einiger Mühe, ihr Handy aus der Jackentasche und rief eine der gespeicherten Kurzwahlen auf.
»Kuttler«, meldete sich der Teilnehmer.
»Ja«, sagte Tamar. Für Kuttler genügte das. »Ich brauche eine Information: über einen Mann, der angeblich Deutscher heißt, angeblich Wolf mit Vornamen, zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt, angeblich Jurastudent...«
»Da ist viel angeblich«, meinte Kuttler.
»Das passt zu dem Knaben. Aber die Staatsschutzleute müssten etwas über ihn wissen. Ich ruf dich später an...«
Sie schaltete das Handy wieder ab, der Mann namens Ramiz war noch immer nicht da. Draußen warten wollte sie nicht. So ging sie in die Kirche und setzte sich auf eine hintere Bank. Wie es schien, war sie allein hier. Sie wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Ihr Blick fiel auf die Statue des heiligen Eremiten Jodokus, der die Hand segnend erhoben hatte und zu
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