Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
kannst du einfach weggehen und mich so erschrecken?“
„Sie hat immer Angst um mich“, sagte das Mädchen und
stand auf. Immer noch waren ihre Augen auf ihn gerichtet. Warum Angst, wollte
er fragen, denn immerhin war Orla in seinem Alter, kein kleines Kind mehr –
aber dann sah er, wie Odette im Laufen innehielt, und es schien nicht Atemnot
zu sein, was sie stoppte. Mit offenem Mund starrte sie zu ihnen herüber, dann
nahm ihr Gesicht einen Ausdruck des Entsetzens an.
„Orla!“, japste sie.
„Ich muss gehen“, sagte das Mädchen leise zu ihm.
„James, ja?“
Er nickte nur, überfahren von dieser weiteren rätselhaften
Begegnung. Das Entsetzen auf Odettes Gesicht erschreckte ihn und gab ihm zu
denken, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. Inzwischen hatte sie
sich wieder in Bewegung gesetzt und zerrte, kaum dass sie in Reichweite war,
das Mädchen von ihm weg.
„Wir haben uns nur unterhalten!“, wollte er sie
beschwichtigen, obwohl ihm das ganz schön lächerlich vorkam. Aber wer weiß, was
die sonst mit Orla anstellte! Wieso ließ die sich das eigentlich gefallen?
„ Unterhalten ?!“, schnappte Odette und starrte ihn
mit einem bohrenden, ungläubigen Blick an, sekundenlang, wie ihm schien. Der
harte Griff um Orlas Arm hielt auch einige ihrer Haarsträhnen gepackt, und das
konnte er kaum mit ansehen.
„Ja, unterhalten“, gab er so friedfertig wie möglich
zurück. „Lass sie doch los, du reißt an ihren Haaren!“
Der Blick, der ihn daraufhin traf, war tödlich – hätte
ihn fällen müssen, direkt neben diesem Was-auch-immer-Gärtchen.
„Komm jetzt, Orla!“, schnaubte Odette und drehte sich
um. „Du sollst doch nicht allein vom Wagen weggehen! Wie kannst du mir so was
antun! Und was ist mit deinem Haar – was soll das, du kannst es doch nicht so
lose herumhängen lassen!“
Sie zog das Mädchen weiter, und die kam einfach mit.
Er sah ihnen nach. Dass es bei den Peregrini nicht gerade emanzipiert zuging,
hatte er ja schon bemerkt, aber so was wie das hier hatte er bisher nicht
erlebt. Dann sah er, dass das Tuch mit dem Kästchen darauf noch im Gras lag. Er
hob beides auf und eilte den Frauen nach. Das Kästchen war aus dunkelrotem,
glänzend poliertem Holz, das mit filigranen Mustern aus hellen und beinahe
schwarzen Hölzern eingelegt war. Es sah ungewöhnlich und ziemlich kostbar aus.
„Orla! Du hast dein Tuch vergessen! Und das Kästchen!“
Aber es war natürlich Odette, die herumfuhr. Sie riss
ihm die Sachen aus der Hand und wandte sich dann direkt wieder an Orla. „Was
ist das für ein Ding? Oh, ich kann’s mir schon denken – das war es, was
er dir in Rhondaport geschenkt hat, ja? Du hättest das gar nicht annehmen
dürfen! Es ist wirklich schändlich, wie er dich bedrängt! Schamlos ist das! Ich
werde noch mal mit ihm sprechen müssen, und mit seinem Vater auch! Das muss
endlich aufhören … er bringt dich noch ins Gerede damit!“
Und so weiter. Wie es aussah, konnte er froh sein,
dass Odette nicht ihn verdächtigte. Er verlangsamte seine Schritte, um
nicht weiter zuhören zu müssen, und dann wurde ihm klar, dass Orla das Kästchen
absichtlich zurückgelassen hatte – damit Odette es nicht in die Hände bekam.
Glückwunsch, James!
Sie hatte
seinen Namen gewusst.
7
Oben
über dem Rand des Tales, da, wo die Trukantagyja weiter Richtung Osten führte,
glühte der übergroße Mond nun immer heller, und das Tal war von den Stimmen
hunderter Frösche erfüllt. Pflanzendüfte stiegen von Bachbett und Wiesen auf
und machten nach den Tagen in der heißen, staubtrockenen Luft die Köpfe
benommen. Und die gebratenen Frösche rochen so gut, dass James seine Vorbehalte
vergaß und sich eine Portion davon mit Gemüse und gekochten Luswurzeln geben
ließ. Sie hatten alle Hunger, und obwohl der Auftritt der angeblichen Empuse
erst ein paar Stunden zurücklag, dachte jetzt anscheinend keiner mehr daran,
nicht einmal Aruza, obwohl lauter kleine Verbandsstücke auf ihren Wangen und
ihrer Nase klebten. Aber jetzt saßen sie ja hier in ihrem von Fängergarn umzäunten
Karree, hatten an den vier Ecken kleine Schalen mit glimmendem Palintegrus
aufgestellt (Kriopes Vorschlag), und das reichte ihnen.
Das Mädchen war nicht dabei, aber das wunderte ihn
nicht, denn er hatte sie noch nie bei den anderen gesehen, weder beim Essen
noch sonst. Je mehr er darüber nachdachte, desto seltsamer und verdächtiger
erschien ihm das alles. Wurde sie etwa gefangen gehalten? Aber warum?
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