Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
ausgebreitet, auf
dem viele kleine Dinge lagen – irgendwelches Grünzeug, Steine, ein Kästchen.
Ihn beachtete sie immer noch nicht. Vor sich hatte sie einen kleinen Kreis vom
Gras befreit und zerkrümelte nun sorgfältig die Erdklümpchen. Mit ganz
langsamen Bewegungen strich sie dann die Erde glatt, nahm zwei schimmernde
Steinchen von dem Tuch und legte sie auf den geglätteten Boden. Als nächstes
wählte sie einen kleinen Zweig und steckte ihn in die Erde. Eine winzige rote
Blüte folgte – solche hatte James eben noch am Bachrand gesehen. Sie hielt inne
und betrachtete ihr Werk, zupfte den Zweig wieder heraus und versetzte ihn um
ein paar Zentimeter. Schließlich öffnete sie das Kästchen, nahm ein schwarzes,
bläulich glänzendes Korn heraus, bohrte mit dem Finger eine kleine Vertiefung
genau in die Mitte des Kreises und legte das Korn hinein. Mit sanften Bewegungen
drückte sie die Erde darüber wieder fest. Dann zerrupfte sie die ausgerissenen
Grashalme und verstreute sie über den ganzen Kreis.
Sie hatte große Hände mit kräftigen, geradlinigen
Fingern, und James hatte ihren fließenden, ruhigen Bewegungen fasziniert
zugesehen. Er hatte keine Ahnung, was sie da machte – vielleicht irgendein
komisches Ritual gegen Gelichter? Aber um sie war die Stille wie ein See. Sie
hatte durch nichts zu erkennen gegeben, ob sie ihn überhaupt bemerkt hatte, und
er wollte schon weitergehen – der Hunger wurde allmählich unbezwingbar – da sah
sie unvermittelt zu ihm auf und lächelte ihn an. Das Lächeln und ihr Anblick
waren ein Schock, denn er wusste sofort, dass er sie kannte. Er hatte dieses
ovale Gesicht, diese bernsteinhellen Augen schon gesehen. Diese langen,
welligen Haare, genau mit diesem roten Abendlicht darin. Und ihr Lächeln – das
war ein Wiedersehenslächeln, ohne Zweifel! Sie kannte ihn auch.
„Hallo … seid ihr noch nicht beim Essen?“, brachte er
verwirrt hervor. Und als sie nichts sagte, sondern ihn nur weiter ansah, fragte
er: „Was machst du da?“
Sie senkte den Blick wieder auf ihren Miniaturgarten,
und er hörte sein Herz klopfen. Verdammt, woher kannte er sie? Warum sagte sie
nichts? Und dann erschütterte ein Gedanke ihn so sehr, dass er nicht
weitergehen konnte. Von drüben! Er kannte sie von drüben ! Sie musste ihm
dort irgendwo begegnet sein! In der Stadt … in der U-Bahn vielleicht … in der
Klinik?! Er sah sie an, versuchte dieses Gesicht auszuforschen, ein sanftes, verschwiegenes
Gesicht mit einem fest geschlossenen Mund – so still, als würde sie nie
sprechen. Nur die Augen waren anders, die schienen etwas sagen zu wollen, sie
waren groß und wölbten sich ein wenig vor, wie die Augen eines kleinen Tieres,
einer Maus oder eines Eichhörnchens vielleicht.
„Wir kennen uns, oder? Wir sind uns schon mal
begegnet!“, sagte er. „Kann es sein – bist du – kommst du auch von –“ Im letzten
Moment bremste er sich. Durfte er das fragen? Durfte er sich und die beiden
anderen auf diese Weise verraten?
Sie schwieg, sah ihn nur an, erwartungsvoll, wie ihm
schien, fragend, abwartend. Aber die Antwort konnte er sowieso in ihren Augen
lesen, er sah ja das Wiedererkennen darin.
„In der … in der Klinik vielleicht?“, umging er die
direkte Frage, flüsterte fast. „Ja? Seit wann bist du hier?“
Aber wieder antwortete sie nicht. Vielleicht hatte sie
ihn gar nicht verstanden, weil er sich total irrte, weil sie einfach ein
Peregrini-Mädchen war, das noch nie von irgendwelchen Kliniken gehört hatte.
„Was ist das, was du da gemacht hast? Ein Ritual?“
Noch einmal strich die Hand mit den abgestoßenen,
erdigen Fingernägeln sacht über den Kreis, streifte die Blätter des Zweigs. Sie
schüttelte den Kopf, dann sah sie wieder zu ihm auf und öffnete die Lippen – es
schien tatsächlich eine bewusste Entscheidung dafür nötig zu sein.
„Ein Frillort-Gärtchen“, sagte sie. Ganz leise nur,
aber er kannte auch ihre Stimme – es war wirklich verrückt, wie verhext, dass
er sich nicht erinnern konnte!
„In welchem Wagen fährst du? Ich habe dich hier noch
nie gesehen! Wie –“
Aber da zerschlug ein lauter Schrei ihr Gespräch wie
ein Blitzschlag.
„ Orla !“, gellte es über die Wiese, und dann sah
er vom Wagenlager her die berufliche Konkurrenz auf sie zustürmen: Odette
Ulgullen, Wahrsagerin und Speiwasser-Spezialistin. So einen Spurt hätte er ihr
gar nicht zugetraut. Sie hatte sogar noch genug Atem, um weiterzuschreien. „Was
machst du denn da?! Wie
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