Formbar. Begabt
schleudern, sondern auch noch, um mich von einer lebensbedrohlichen Verletzung zu heilen, das komplette Blut aufzusaugen und die Sanitäter ins obere Stockwerk zu schicken?«
»Die Nutzung der Kraft laugt aus. Das wurde mir an diesem Tag bewusst. Ich habe es offensichtlich übertrieben. Wie gesagt war das komplette Wochenende zur Erholung nötig.«
»Das ist bedenklich. Was wird passieren, wenn du endgültig über deine Kräfte gehst? Wenn es sogar deine Lebensenergie ist, mit der du bezahlst?«
»Ich will es nicht herausfinden, doch ich kann es mir denken. In Zukunft werde ich genau darauf achten, wie viel mich die verschiedenen Befehle kosten.«
»Einerseits ist es beruhigend, dass deine Gabe gewissen Gesetzen unterworfen ist, und dass die Energie, die du aufwendest, nicht aus dem Nichts kommt. Andererseits ist es bedenklich, dass du dich dadurch selbst in Gefahr begibst. Pass auf dich auf. Handle verantwortungsvoll.«
Ich verdrehe die Augen und lache. »Wie alt bist du? Fünfzig?« Jan verzieht ungehalten den Mund, kann sich ein Grinsen aber nicht verkneifen.
Die folgenden Stunden verbringen wir mit angeregten Gesprächen, bis wir gegen 17 Uhr vom Arzt unterbrochen werden. Er befindet sich auf seinem nachmittäglichen Rundgang und ist sichtbar amüsiert, mich schon wieder in diesem Zimmer anzutreffen. Schnell verabschiede ich mich von Jan und verspreche, ihn am nächsten Tag wieder zu besuchen.
Als ich das Krankenhaus verlasse, fühle ich mich gelöst und entspannt wie schon lange nicht mehr.
***
Schon bald empfand ich den dringenden Wunsch, sie an meinen besonderen Fähigkeiten teilhaben zu lassen. Sie war so beeindruckt. So bestrebt darin, mir nachzueifern, obwohl sie einen Fehlschlag nach dem anderen akzeptieren musste.
19
Unmoralisch
Im Laufe der folgenden beiden Tage verbringe ich jede freie Minute im Krankenhaus. Der nette Arzt will Jan über das Wochenende zur Beobachtung dort behalten. Die Dame an der Rezeption kennt mich schon und grüßt freundlich, wenn ich an ihr vorbeilaufe, sodass es nicht mehr nötig ist, die Kraft einzusetzen, um die Besuchszeiten zu umgehen. Meine Familie atmet auf und ist erleichtert, dass ich nicht mehr in eine imaginäre Gewitterwolke gehüllt bin, die sich jederzeit entladen kann. Ich rechne meiner Mutter hoch an, dass sie mich nicht ausfragt und vor der Männerwelt im Allgemeinen warnt, sondern sich stattdessen mit mir über die Versöhnung mit Jan freut. Gleichzeitig macht sie unauffällig deutlich, dass sie die Person, mit der ihre Tochter plötzlich so viel Zeit verbringt, sehr gerne kennenlernen würde. Wenn es nach mir geht, wird das in ca. zehn Jahren der Fall sein. Durch das Ereignis in Jans Haus habe ich nicht das Gefühl, als würden Treffen mit den Eltern unter einem guten Stern stehen.
Auch Viv bemerkt zufrieden die Wandlung, die meine Laune vollzogen hat. »Siehst du? Ich sagte ja schon, dass eine Verbindung zwischen euch besteht. Außerdem weißt du jetzt, warum er am Freitag nicht aufgetaucht ist. Die Treppe runterfallen ist echt ein Klassiker, aber dass er es auch noch schafft, sich solche Verletzungen zuzuziehen... Wann wird er aus dem Krankenhaus entlassen?«
»Am Sonntagabend. Es wird allerdings etwas länger dauern, bis er wieder in die Schule kommt. Er steht weiterhin unter Schmerzmitteln.«
»Raffiniert, wie du die Gelegenheit genutzt hast.« Viv stößt mich kichernd mit ihrem Ellbogen in die Seite.
»Gelegenheit genutzt?«, frage ich verwirrt.
Viv legt ihren Arm um meine Schultern. »Jan, hilflos und verletzt im Krankenhaus. Dankbar über jede mitfühlende Seele, die ihn besucht und von den schrecklichen Schmerzen ablenkt...«
Als ich die Augen verdrehe und entnervt den Kopf schüttle, wird ihr Glucksen nur noch lauter. »Wenn ich mir überlege, dass er dich erst letzte Woche ins Kino eingeladen hat. Nun hängst du ständig bei ihm rum. Sei froh, dass du die Messer nicht siehst, die dir Denise mit ihrem Starren in den Rücken jagt. Scheinbar ahnt sie, dass es zwischen euch ganz gut läuft.« Obwohl Viv breit lächelt, sehe ich in ihren Züge leichte Besorgnis und die unausgesprochene Warnung, aufzupassen, wie viel Vertrauen ich Jan schenke. Es ehrt sie, dass sie so auf mich Acht gibt.
Nichtsdestotrotz haben wir uns in den vergangenen Tagen etwas voneinander entfernt. Wir sitzen noch immer nebeneinander und verbringen den Großteil des Unterrichts mit Schwätzen, aber mir ist bewusst, dass ich ihr wesentliche Informationen vorenthalte.
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