Fortunas Odyssee (German Edition)
Mund.
Oft reichte es ihr nicht, nur am Fenster zu sitzen. Dann ging sie hinaus auf die Straße und hielt jeden Passanten an, um ihn irgendetwas zu fragen oder Gehörtes weiterzugeben, das nicht immer der Wahrheit entsprach. Sie handelte ganz nach dem Motto: Nur der Blitz ist schneller als ein Gerücht.
»Die Florisbela ist schwanger… Der Maurer-Jose hat sich den Fuß gebrochen und wird für immer humpeln.«
Aber Kita Klatschtante hatte auch ihre gute Seite: Sie war immer hilfsbereit und niemals schlechter Dinge. Außerdem war sie die Mutter eines Jungen, der später ein Freund von Fred werden sollte.
Am Ende der Straße stand das Haus von Judith, die man nur Hexe nannte. Sie war die Frau des Metzgers, der Alkoholiker war und im Suff zur Gewalt neigte.
Ich lief langsam, denn es war heiß, obwohl der Abend schon hereinbrach. Zur meiner Überraschung sah ich die Hexe am Fenster stehen. Sie war eine dicke Frau um die fünfzig mit widerspenstigen grauen Haaren. Sie schminkte sich dunkel um ihre Augen herum und verstärkte den Leberfleck in der Nähe ihres Mundes. Ich gebe zu, dass ich bei ihrem Anblick erschrak. Ihre Erscheinung war furchteinflößend, und mit ihrem wirren Blick sah sie alles andere als glücklich aus.
Einige Kinder spielten Fußball auf der Straße, und irgendwann fiel der Ball direkt in das Blumenbeet unter ihrem Fenster. Bitu, Kitas Sohn, lief hin, um ihn zu holen. Als er sich bückte und dabei auf die Margeriten trat, erhielt er eine kalte Dusche von oben.
Ich weiß nicht, warum sie Hexe genannt wurde, wegen ihrer Erscheinung oder ihrer fehlenden Geduld mit Kindern. Sie mussten sich nur ihrem Haus nähern, um von ihr beschimpft oder mit einem Eimer Wasser »erfrischt« zu werden. Außer Kindern mochte sie auch keine Tiere, es gab keinen Platz für sie in ihrem einfachen Haus. Ihre ständige schlechte Laune hielt die Nachbarn auf Abstand, und mit der Zeit gab sich niemand mehr mit ihr ab. Sie wurde weder auf Geburtstage noch auf Hochzeiten eingeladen, nicht einmal auf das alljährliche Straßenfest, zu dem die Anwohner Stände mit Speisen, Getränken und Süßigkeiten errichteten, zu der fröhlicher Akkordeonmusik tanzten und bis in die Morgenstunden feierten. Die Arme schaute mit versteinertem Gesicht und einem Blick, der tiefe Verbitterung verriet, dem fröhlichen Treiben der Menschen auf der Straße zu, die sie so verachtete.
Warum hatte niemand Mitleid mit dieser Frau? Mich überkam eine Art verspätetes Mitgefühl für sie.
Ich lief bis zu ihrem Fenster, um sie zu beobachten. Dabei kam mir in Erinnerung, wie sehr ich mich als Kind vor ihr gefürchtet hatte. Neugierig ging ich zum Haus und öffnete die Tür. Auf der einen Seite schämte ich mich für das Eindringen in ihr Privatleben, andererseits hatte die Tatsache, unsichtbar zu sein, auch ihre Vorteile. Das Haus war ein einziges Tohuwabohu. In der Spüle befanden sich zerbrochenes Geschirr, überall Essensreste und herumliegende Kleider, und ein starker Zigarettengeruch erfüllte, neben anderen Aromen, deren nähere Beschreibung hier unterbleiben kann, die Luft.
Als ich in ihr Schlafzimmer kam, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Der ganze Raum war voller Spielzeug – Autos und Puppen. Jede Menge Puppen!
Ich setzte mich auf das Bett und nahm eine Puppe mit rosa Kleidern und Zöpfen in die Hand, danach eine andere und anschließend ein Holzauto. Auf der Kommode stand eine kleine Wiege aus Bambus, in der zusammengelegte Tücher eine Matratze imitieren sollten. Es war ein seltsames Gefühl, diese Ansammlung von Kindersachen zu sehen, ausgerechnet bei ihr, die Kinder so hasste. Tage später entdeckte ich, dass sie regelmäßig von ihrem Mann verprügelt wurde.
Als ich aus dem Haus trat, hatten sich auf der Straße einige Nachbarinnen versammelt, Mütter, die wegen des aggressiven Verhaltens der Hexe gegenüber dem Jungen, der den Ball geholt hatte, aufgebracht waren. Ich dachte darüber nach, wie kleinkariert und intolerant die meisten Menschen waren. Erst heute erkannte ich, was für mich als Kind unmöglich gewesen war: Diese Frau litt schwer unter ihrem Unglück und war außerstande sich zu helfen - jemand anders tat dies erst recht nicht. Sie verdiente es wahrhaftig nicht, auf diese Weise verachtet zu werden. Wenn man bedachte, wie sie von ihrem Mann verprügelt wurde,
war sie ein viel größeres Opfer als diese Kinder. Schließlich hat noch niemandem ein Eimer Wasser geschadet.
Tim liebte es, seine kleinen Käfer- und
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