Fortunas Tochter
den Wangen, Arme und Beine zeigten zahllose Narben. Als einzige Beklei– dung trug sie ein dünnes Hemd. Sie war nur noch Haut und Knochen, aber sie war weder vor Hunger noch an einer Krankheit gestorben.
»Gift«, entschied er ohne Zögern.
»Reden Sie doch nicht so was!« entgegnete die Frau herzhaft lachend, als hätte sie gerade den komischsten Witz gehört.
Tao Chi’en mußte ein Papier unterschreiben, in dem erklärt wurde, der Tod sei aus natürlichen Ursachen erfolgt. Die Alte ging auf den Gang hinaus, schlug zweimal auf einen kleinen Gong, und sogleich erschien ein Mann, steckte den Leichnam in einen Sack, warf ihn sich über die Schulter und verschwand ohne ein Wort, während die Kupplerin dem zhong yi zwanzig Dollar in die Hand zählte. Dann führte sie ihn durch weitere Labyrinthe zu einem Ausgang. Tao Chi’en stand auf einer anderen Straße und brauchte eine ganze Zeit, um sich zurechtzufinden und in seine Wohnung zurückzukehren.
Am Tag darauf ging er wieder zu dem Haus. Da waren die kleinen Mädchen mit ihren bemalten Gesichtern und ihren wahnsinnigen Augen, die die Passanten in zwei Sprachen anriefen. Vor zehn Jahren in Kanton hatte er mit Prostituierten zu praktizieren begonnen, er hatte sie benutzt als Fleisch zum Mieten und zum Experimentieren mit den goldenen Nadeln seines Akupunkturlehrers, aber nie hatte er sich damit aufgehalten, über ihre Seelen nachzudenken. Er hatte sie betrachtet als einen der unvermeidlichen Mängel des Universums, einen weiteren Irrtum der Schöpfung, als schmachbeladene Wesen, die litten, um die Verfehlungen vorheriger Leben abzubüßen und ihr Karma zu läutern. Sie hatten ihm leid getan, aber er war nicht auf den Gedanken gekommen, daß an ihrem Los etwas zu ändern sein könnte. Ohne Alternative warteten sie in ihren Gelassen auf das Unglück wie auf dem Markt die Hühner in ihren Käfigen, das war ihr Schicksal. So lief es nun einmal in der unordentlichen Welt. Wie oft war er schon durch diese Straße in San Francisco gegangen, ohne auf diese Fenster zu schauen oder auf die Gesichter hinter den Gittern oder die herausgestreckten Hände. Er hatte eine vage Vorstellung von ihrem Stand als Sklavinnen, aber in China waren das die Frauen mehr oder weniger alle - wenn sie Glück hatten, bei ihren Vätern, Ehemännern oder Geliebten, andere dienten ihrem Herrn von morgens bis in die Nacht, und viele waren so jung wie diese kleinen Mädchen. An diesem Morgen jedoch sah er sie anders, etwas in ihm hatte sich gewandelt.
Am Abend zuvor hatte er sich ganz bewußt nicht schlafen gelegt. Als er aus dem Bordell gekommen war, hatte er ein öffentliches Bad aufgesucht, wo er sich lange einweichte, um sich der dunklen Energie seiner Kranken zu entledigen und des Kummers, der ihn niederdrückte.
Wieder in seiner Wohnung, schickte er den Gehilfen nach Hause und machte sich einen Jasmintee, um sich zu reinigen. Er hatte seit vielen Stunden nichts gegessen, aber dies war nicht der Augenblick dafür. Er entkleidete sich, entzündete Weihrauch und eine Kerze, kniete nieder, die Stirn auf dem Boden, und sagte ein Gebet für die Seele des toten Mädchens. Dann setzte er sich hin und meditierte stundenlang in völliger Bewegungslosigkeit, bis es ihm gelang, sich ganz zu lösen vom Lärm der Straße und von den Gerüchen, die aus dem Restaurant aufstiegen, und sich in die Leere und Stille seines eigenen Geistes zu versen– ken. Er wußte nicht, wie lange er so entrückt gesessen und wieder und wieder nach Lin gerufen hatte, als endlich das zarte Phantom ihn hörte in der geheimnisvollen Unend– lichkeit, in der sie wohnte, und langsam den Weg fand, sich mit der Leichtigkeit eines Seufzers näherte, anfangs fast unmerklich und nach und nach immer deutlicher, bis er klar ihre Gegenwart spürte. Er gewahrte Lin nicht zwischen den Wänden des Zimmers, sondern in seiner eigenen Brust, wo sie sich mitten in seinem Herzen ruhig niedergelassen hatte. Tao Chi’en öffnete nicht die Augen und bewegte sich nicht. Stunden verharrte er in derselben Haltung, von seinem Körper getrennt, schwebend in einem leuchtenden Raum in vollkommener Verbindung mit ihr. Im Morgengrauen, als beide sicher waren, daß sie sich nicht wieder verlieren würden, verabschiedete Lin sich sanft. Dann kam der Meister der Akupunktur, lächelnd und ironisch wie in seinen besten Zeiten, bevor die Wahnvorstellungen der Senilität ihn niederzwangen.
Und er blieb bei ihm, begleitete ihn und beantwortete seine Fragen, bis
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