Fortunas Tochter
Notwendigkeit bei der irrwitzigen Mission, mit der Tao Chi’en sie betraut hatte. Seit dreieinhalb Jahren hatte sie kein Kleid mehr getragen, wußte sie nichts von Miss Rose, Mama Fresia oder ihrem Onkel John; sie kamen ihr vor wie tausend Jahre, in denen sie einer Schimäre nachjagte, die mehr und mehr ver– blaßte. Die Zeit der heimlichen Umarmungen mit ihrem Geliebten war weit, weit zurückgeblieben, sie war sich ihrer Gefühle nicht mehr sicher, sie wußte nicht, ob sie aus Liebe oder aus Stolz weiter hoffte, ihn zu finden. Bisweilen vergingen Wochen, ohne daß sie an ihn dachte, weil ihre Arbeit sie in Anspruch nahm, aber irgendwann plötzlich traf die Erinnerung sie wie ein Keulenhieb, und sie erzitterte. Dann blickte sie sich befremdet um, ohne zu begreifen, wie sie an diesen Ort geraten war. Was machte sie hier, in Hosen und von Chinesen umgeben? Es bedurfte einiger Kraftanstrengung, bis sie die Verwirrung abgeschüttelt und sich erinnert hatte, daß sie hier war der Unnachgiebigkeit der Liebe wegen. Ihre Mission war es ganz und gar nicht, Tao Chi’en an die Hand zu gehen, redete sie sich zu, sondern Joaquín zu suchen, deshalb war sie von weit her gekommen, und sie würde ihn auch finden, und sei es nur, um ihm ins Gesicht zu sagen, daß er ein verdammter Deserteur war und ihr die Jugend verdorben hatte.
Deswegen war sie die drei vorigen Male aufgebrochen, trotzdem versagte ihr Wille, es noch einmal zu versuchen. Zwar pflanzte sie sich entschlossen vor Tao Chi’en auf, um ihm ihren Entschluß zu verkünden, sie wolle ihre Pilgerfahrt wiederaufnehmen, aber die Worte blieben ihr wie Sand im Halse stecken. Sie konnte diesen seltsamen Gefährten nicht verlassen, an den sie nun einmal geraten war.
»Was wirst du tun, wenn du ihn findest?« hatte Tao Chi’en sie einmal gefragt.
»Wenn ich ihn sehe, werde ich wissen, ob ich ihn noch liebe.«
»Und wenn du ihn nie findest?«
»Dann werde ich mit dem Zweifel leben, nehme ich an.« Sie hatte ein paar vorzeitige weiße Haare an den Schläfen ihres Freundes entdeckt. Manchmal wurde die Versuchung unerträglich, die Finger in diesen kräftigen schwarzen Haaren zu vergraben und die Nase an seinem Hals, um seinen feinen ozeanischen Duft von nahem zu riechen, aber sie hatten nicht mehr die Ausrede, mit ihm in einer Decke zusammengerollt auf dem Fußboden zu schlafen, und die Gelegenheiten, sich zu berühren, kamen allzu selten. Tao arbeitete und studierte zuviel; sie konnte erraten, wie müde er sein mußte, obwohl er sich immer tadellos hielt und auch in den kritischsten Augenblicken Ruhe bewahrte. Er wankte nur, wenn er von einer Versteigerung kam und ein völlig verängstigtes Mädchen am Arm mitzog. Er untersuchte sie, um zu sehen, in welchem Zustand sie war, und übergab sie dann mit den nötigen Anweisungen an Eliza, danach schloß er sich für lange Stunden ein. Er ist mit Lin zusammen, dachte Eliza, und ein unerklärlicher Schmerz bohrte sich ihr ins Herz. Das war Tao wirklich. In der Stille der Meditation suchte er die verlorene Festigkeit wiederzugewinnen und der Versuchung des Hasses und des Zorns zu entsagen. Nach und nach machte er sich frei von Erinnerungen, Wünschen und Gedanken, bis er fühlte, daß sein Körper sich im Nichts auflöste. Eine Zeitlang hörte er auf zu existieren, bis er, in einen Adler verwandelt, wieder erschien und mühelos sehr hoch hinaus flog, getragen von einer kalten, reinen Luft, die ihn über die höchsten Berge hob. Von dort konnte er unten weite Wiesengründe, endlose Wälder und Flüsse aus purem Silber sehen.
Da erreichte er die vollkommene Harmonie und tönte im Gleichklang mit Himmel und Erde wie ein feines Instrument. Er schwebte zwischen milchweißen Wolken, die prachtvollen Schwingen ausgebreitet, und plötzlich spürte er sie. Lin war neben ihm, ein zweiter herrlicher Adler hing in dem unendlichen Himmel.
»Wo ist deine Fröhlichkeit geblieben, Tao?« fragte sie ihn.
»Die Welt ist voller Leiden, Lin.«
»Das Leiden hat ein geistiges Ziel.«
»Es ist nur unnützer Schmerz.«
»Erinnere dich, daß der Weise immer heiter ist, weil er die Wirklichkeit billigt.«
»Und die Schlechtigkeit, muß ich die auch billigen?«
»Das einzige Gegengift ist die Liebe. Und übrigens, wann wirst du wieder heiraten?«
»Ich bin mit dir verheiratet.«
»Ich bin ein Geist, Tao, ich werde dich nicht dein ganzes Leben lang besuchen können. Es strengt mich an, jedesmal zu kommen, wenn du mich rufst, ich gehöre nicht mehr
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