Fortunas Tochter
ihr Leben wie die Ehre der Familie für immer ruiniert.
»Zu niemandem ein Wort darüber, nicht einmal zu Mama oder zu John, hast du verstanden?« war das einzige, was er während der Fahrt sagte.
Rose lebte ein paar Wochen in Ängsten, bis sich herausstellte, daß sie nicht schwanger war. Die Tatsache entrang ihr einen Seufzer unendlicher Erleichterung, als hätte der Himmel sie losgesprochen. Drei weitere Monate verbrachte sie in Selbstkasteiung, strickte für die Armen, las und schrieb heimlich und vergoß nicht eine einzige Träne. Während dieser Zeit dachte sie über ihr Schicksal nach, und etwas in ihr verwandelte sich, und als sie ihre Klausur im Haus der Tante beendet hatte, war sie ein anderer Mensch. Nur sie war sich der Veränderung bewußt. Sie kehrte zurück nach London, wie sie fortgegangen war, heiter, ruhig, interessiert an Gesang und an Lektüre wie vor ihrer großen Affäre, ohne ein Wort des Grolls gegen Jeremy, weil er sie aus den Armen des Geliebten gerissen hatte, ohne Sehnsucht nach dem Mann zu äußern, der sie betrogen hatte, olympisch in ihrer Haltung gegenüber dem Klatsch im Bekanntenkreis und den Trauergesichtern ihrer Familie. An der Oberfläche schien sie dasselbe Mädchen wie zuvor zu sein, und nicht einmal ihre Mutter konnte in ihrem vollendeten Betragen einen Riß entdecken, der ihr einen Vorwurf oder einen Rat erlaubt hätte. Die einzige Veränderung in Roses Verhalten war die Laune, sich stundenlang in ihrem Zimmer einzuschließen und zu schreiben. Mit ihrer winzig kleinen Schrift füllte sie Dutzende von Heften, die sie streng unter Verschluß hielt. Aber sie versuchte niemals, einen Brief fortzuschicken, wie Jeremy feststellte, und da er nichts mehr fürchtete, als ausgelacht zu werden, machte er sich weiter keine Sorgen wegen dieser neuen Schreiberei und nahm an, seine Schwester sei vernünftig geworden und habe den unseligen Wiener Tenor vergessen. Aber sie hatte ihn nicht nur nicht vergessen, sie erinnerte sich sogar mit tagheller Klarheit an jede Einzelheit des Geschehenen und an jedes gesprochene oder geflüsterte Wort. Das einzige, was sie gänzlich aus ihrem Gedächtnis auslöschte, war der Betrug und ihre Enttäuschung. Karl Bretzners Frau und Kinder verschwanden ganz einfach, sie hatten nun einmal keinen Platz auf dem riesigen Fresko ihrer Liebeserinnerungen.
Ihr Aufenthalt im Haus der Tante hatte nicht ausgereicht, dem Gerede entgegenzuwirken, aber da die Gerüchte nicht bestätigt werden konnten, wagte niemand, die Familie ins Gesicht hinein zu kränken. Einer nach dem anderen kehrten die Verehrer zurück, die Rose vorher so stürmisch umworben hatten, aber sie schickte alle fort und redete sich mit der Krankheit ihrer Mutter heraus, die an einem Krebsgeschwür litt. Was man verschweigt, das ist, als wäre es nie gewesen, behauptete Jeremy, entschlossen, mit Schweigen jede Spur dieser Affäre zu tilgen. Roses peinliche Eskapade hing im Limbus der nicht genannten Dinge, wenn auch die Geschwister bisweilen dahin– gehende Anspielungen machten, die den Groll frisch erhielten, sie aber auch in dem geteilten Geheimnis vereinten. Jahre später, als es niemanden mehr berührte, wagte Rose, die ganze Sache ihrem Bruder John zu erzählen, vor dem sie immer die Rolle des verhätschelten, unschuldigen kleinen Mädchens gespielt hatte. Kurz nach dem Tode der Mutter wurde Jeremy Sommers die Leitung des Kontors der British Trading Company in Chile angeboten. Er reiste ab mit seiner Schwester Rose, und sie nahmen das Geheimnis mit ans andere Ende der Welt.
Sie kamen 1830 zum Ende des Winters in Valparaíso an, als es noch ein Dorf war, aber es gab schon europäische Handelsgesellschaften und Familien. Rose betrachtete Chile als ihre Strafe und nahm sie stoisch an, sie fügte sich darein, ihren Fehltritt mit dieser unwiderruflichen Verbannung zu bezahlen, und sie ließ nicht zu, daß irgend jemand, schon gar nicht ihr Bruder Jeremy, etwas von ihrer Verzweiflung ahnte. Ihre Disziplin, die ihr nicht erlaubte, sich zu beklagen oder auch nur im Schlaf von dem verlorenen Geliebten zu sprechen, hielt sie aufrecht, wenn Schwierigkeiten sie niederzudrücken drohten. Sie richtete sich in dem Hotel, das sie anfangs bewohnten, so gut wie möglich ein und war entschlossen, sich vor starkem Wind und Feuchtigkeit zu hüten, denn in Valparaíso hatte sich die Diphtherie ausgebreitet, und die örtlichen Bader bekämpften sie mit grausamen und nutzlosen Operationen, dazu mit ungeeigneten
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