Fossil
darauf, dass sie weiterredet. Es ist nicht so, dass sie nichts sagen will, sondern eher dass ihr die Kraft fehlt, länger zu sprechen. Nach fünf oder zehn Minuten schließt sie jedes Mal wieder die Augen und presst sich, so fest es nur geht, gegen die Schlafzimmerwand. Offenbar kann sie es immer nur kurz ertragen, und die pulverblauen Opiate machen nicht gerade munterer. Also kennt Deacon bisher nur Bruchstücke der Geschichte – was ihre Großmutter in das alte Notizbuch geschrieben hat, Teile von dem, was Chance im Labor passiert ist –, doch er vermutet, dass ihre Schilderungen manchmal bewusst oberflächlich bleiben. Er hat keine andere Wahl, als ruhig und geduldig hier zu sitzen, oder wenigstens so zu tun, als wäre er es, und darauf zu warten, dass Chance die Augen öffnet und weiterspricht.
Sadie ist unten, allein, ihre eigene Entscheidung. Sie ist wütend auf Deacon, weil er bei seiner Exfreundin Krankenschwester spielt, und wahrscheinlich noch wütender, weil die beiden da oben ihr noch immer nicht alles erzählen, was sie ihr erzählen könnten. Vor ein paar Stunden hat sie ihnen heißen Tee hinaufgebracht, Kamille und Pfefferminz, und eine große Schüssel mit Campbell’s Hühnersuppe. Der Blick, den sie dabei aufsetzte, ließ Deacon allerdings ernsthaft befürchten, das Essen könne vergiftet sein. Aber das war am Ende egal, denn Chance konnte ohnehin nur ein paar Schlucke Tee trinken, die Suppe ignorierte sie vollkommen.
Deacon folgte Sadie bis zur Treppe und ließ Chance dabei länger allein als vorgehabt, aber er hatte auch Angst, dass Sadie kurz davor war, allein zu Fuß nach Quinlan Castle zurückzulaufen, Schnittwunde in der Hacke hin, Hundephantome her.
«Hat sie eine Ahnung, was mit Dancy ist?», fragte Sadie. «Mehr will ich gar nicht wissen.» Verärgert spähte sie über Deacons Schulter in Chance’ Zimmer.
«Möglicherweise, aber im Augenblick ist es schon schwer genug, herauszufinden, was von dem, was sie für wahr hält, auch wirklich passiert ist und was sie sich nur einbildet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Chance glaubt, sie würde den Verstand verlieren.»
«Tja, so wie sie in die Veranda gerast ist, kann ich das schon nachvollziehen.» Sadie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte trübe auf die Wanderstiefel, die Chance ihr am Samstagabend geliehen hat. Alberne Riesenteile sind das an Sadies Füßen, mindestens zwei Nummern zu groß für sie. «Das liegt ja wohl bei ihr in der Familie.»
Deacon hätte sie am liebsten geschlagen, es war einer dieser Momente, in denen er eigentlich nur noch fortwollte von Sadie, so weit es irgend ging, nur konnte er hier jetzt nicht einfach abhauen.
«Ich tue jetzt mal so, als ob du das nicht gesagt hättest, weil du in Wirklichkeit keine halb so schlimme Hexe bist, wie du gern glaubst. » Er flüsterte fast, damit Chance nichts mitbekam, versuchte Worte zu finden, die die Bombe entschärften, die hinter seinen blutunterlaufenen Augen tickte. «Falls Chance weiß, was mit Dancy passiert ist, wird sie es uns sagen, und wenn nicht, dann tut es mir auch leid.»
«Bitte, wie du meinst.» Sadie polterte in Chance’ Stiefeln die Treppe hinunter, und eine Minute später hörte er aus dem Wohnzimmer unten einen Film in voller Lautstärke.
«Ich hätte auf sie hören sollen, Deke», sagt Chance nun, und Deacon sieht, dass sie die Augen geöffnet hat und aus dem offenen Fenster hinaus in die Dunkelheit schaut.
«Meinst du Dancy?», fragt er, und sie nickt, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.
«Ja. Ich dachte, ich wüsste so viel. Ich dachte immer, ich wüsste so viel.»
«Vielleicht sollten wir uns ein wenig über Dancy unterhalten.» Er betrachtet eines der Bücher, die er in den aufgeschlitzten Überresten des Seesacks gefunden hat. Es ist ein wasserfleckiges Exemplar von Beowulf. Die Seiten haben Eselsohren, jemand hat darin Zeilen mit Kugelschreiber unterstrichen und in den Zwischenräumen Bemerkungen notiert. Auf den zwei oder drei leeren Seiten am Ende sind ein paar Zeichnungen zu sehen.
«Ich habe sie genauso behandelt wie dich, Deacon, so wie ich jeden behandele in meinem Leben. Entweder passt du in mein rationalistisches Weltbild, oder du kannst dich verpissen.»
Deacon nimmt das Buch vom Fußboden, hält es hoch, sodass Chance das malträtierte Cover erkennen kann. Es zeigt ein grelles Comicbild des Monsters Grendel, das den großen Krieger in der schuppenbesetzten Pranke hält. «Ich vermute mal, du hast das hier
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