Fossil
zuschlagen, blättert sich dann aber durch weitere fünfzig Seiten, das kann es jetzt auch nicht mehr schlimmer machen. Der Vertrauensbruch ist begangen, ob sie nun irgendetwas dabei herausgefunden hat oder nicht, also kann sie auch weitermachen. Ungefähr in der Mitte des Notizbuchs enden die Aufzeichnungen über Trilobiten, und es wird noch viel verwirrender: Eine siebenseitige Figur und unzählige Berechnungen folgen, und plötzlich würde Sadie das Buch am liebsten quer durchs Zimmer gegen den Fernseher schleudern und es dann irgendwo auf dem Fußboden liegenlassen, damit Deacon und Chance es da finden, wenn sie genug voneinander haben und sich daran erinnern, dass Sadie allein hier unten sitzt und auf sie wartet.
«Ich bin letzte Woche mit einem Mann von der Stadtverwaltung noch einmal im Wasserwerkstunnel gewesen. Habe mir diesmal den eingemauerten Teil ungefähr dreihundertfünfzig m. vom Fuße des SRM entfernt angesehen. »
Sadie hält inne, ihr Herz schlägt wieder schneller, und ihr Mund ist trocken und säuerlich. Allein die Erwähnung des Wasserwerkstunnels reicht aus, und sie wird hellwach. Schnell schaut sie hinüber zur Treppe, zu den Schatten dort, bevor sie sich erneut dem Buch zuwendet und weiterliest.
«Das Mauerwerk zeigt keine Risse oder Löcher. Habe weitere Dicranurusexemplare in der Nähe derselben Stelle entdeckt. Schrecklicher Geruch (wie alter gammelnder Kohl), und der Mann von der Stadtverwaltung meinte, er hätte manchmal Geräusche hinter der Mauer gehört. Ich kann nachts nicht mehr schlafen. Kann nicht aufhören, an das Ding in der Flasche, die Mauer und die Polyeder zu denken. Unser Trinkwasser läuft da schließlich durch. »
Und das ist alles. Danach kommen nur noch Zahlen und endlose Variationen einer siebenseitigen geometrischen Figur. Sadie liest den Abschnitt über den Tunnel noch zweimal, versucht, dem Ganzen eine verborgene Bedeutung abzupressen, sucht zwischen den Zeilen und bleibt mit dem offenen Buch auf dem Schoß vor dem flimmernden Fernseher sitzen, allein mit dem, was sie gerade gelesen hat, und seiner möglichen Bedeutung.
«Doch, ich kenne noch jemanden bei der Polizei in Atlanta», sagt Deacon. Es gibt nicht viel auf der Welt, worüber er weniger gern reden würde. Er hat sich vor Jahren geschworen, dass er nie wieder etwas mit den Cops zu tun haben wird, weil er nicht länger ausgequetscht werden wollte, nach dem bisschen, was er manchmal über irgendwelche Tragödien sah, wenn er sich anstrengte – und manchmal auch, wenn er es nicht einmal versuchte. Diese Gabe ist wie ein Krebsgeschwür in ihm, das er weder herausschneiden noch ignorieren kann, was aber noch lange nicht bedeutet, dass er auch darüber redet, zugibt, wozu sie ihn gemacht hat. Und doch muss er genau das jetzt tun, wegen Chance und Sadie und dem, was er gesehen hat, als er einen weißen Bindfaden am Stamm eines Hornstrauchs berührte.
Versuch zu ändern, was noch nicht geschehen ist, Deacon, hat Dancy in der Nacht am Tunnel gesagt, und es kommt ihm vor, als wäre das schon hundert Jahre her.
«Den Detective, mit dem ich manchmal zusammengearbeitet habe», sagt er. Chance öffnet die Augen halb, die opiatschweren Lider.
«Du musst mir nichts darüber erzählen, wenn du nicht willst, Deke», sagt sie.
«Doch, ich muss, Chance. Diesmal muss ich darüber reden.» Trotzdem ist er dann ein paar Sekunden still, reibt die Handflächen aneinander und schaut auf den Boden, als ob der Mut ihn verlassen würde, wenn er Chance zu lange ansieht. Dabei sollte es ihm Kraft geben, sie anzusehen, ihn bestärken und antreiben, statt ihm noch mehr Angst zu machen, als er ohnehin schon hat.
«Ich habe ihn angerufen, während du in der Uni warst. Tatsächlich hatte ich gerade aufgelegt, als du… na ja, du weißt schon.» Er will nicht sagen: als du mit dem Auto ins Haus gerast bist. Also deutet er nur mit dem Daumen über die Schulter aus dem Schlafzimmer in Richtung der Veranda.
«Schon klar», sagt Chance. «Verstehe.»
«Ich habe ewig nicht mehr mit dem Mistkerl gesprochen. Ich dachte, er kriegt einen Infarkt, als er meine Stimme hörte.»
«Du hast ihn wegen Dancy angerufen», sagt Chance. Deacon nickt und sieht weiter auf den Boden.
«Ich habe ihm nur so viel erzählt, dass er mich nicht für völlig wahnsinnig hält. Es war dieser Finger. Ganz egal, wofür sie ihn hält oder was ich gesehen habe, als ich ihn anfasste, ist es ja nicht ausgeschlossen, dass sie irgendwelche Leute umbringt und
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