Fossil
nicht wirklich zu, sieht eigentlich nur auf den Fernseher, weil sie die Augen und ihre Wut darauf richten kann. Etwas anderes zum Ansehen außer den Wänden, den Fenstern und der Nacht draußen. Wenn sie dabei auch noch aufhören könnte, an Deacon und Chance oben zu denken, die ihr mit ihrer Geheimniskrämerei zeigen, wer sie hier eigentlich ist, nämlich Sadie Jasper, ein minderbemittelter Freak, der die Wahrheit nicht ertragen kann.
Ich bin nicht die durchgedrehte Kuh, die ihr Auto in Häusern versenkt, denkt sie, steckt sich eine Zigarette an und hofft, dass Chance den Rauch auch oben noch riechen kann. Dann wandert ihr Blick vom Bildschirm zu dem alten Notizbuch auf dem Couchtisch.
Deacon konnte Chance kaum dazu bewegen, es aus der Hand zu legen, als er sie wieder im Haus hatte nach dem Besuch im Krankenhaus. Sie mussten hintenherum zurück ins Haus, durch die Küche, weil es vorne ohne die Stufen nicht gut ging. Er hatte zu ihr gesagt, sie solle es jetzt für eine Weile weglegen und dass sie keine Angst haben müsse, niemand würde es hier stehlen, nachdem sie das Buch im Wartezimmer die ganze Zeit krampfhaft festgehalten hatte, ja, sie ließ es nicht einmal los, als sie ihr die Schnittwunde an der Stirn nähten.
Niemand hat Sadie verboten, es sich anzusehen. Weder gab es eine klare Ansage noch irgendeine Andeutung, die Finger vom Notizbuch zu lassen. Aber wahrscheinlich wäre es dasselbe, wie ein fremdes Tagebuch zu lesen, da weiß auch jeder, dass man so etwas nicht tut. Also sollte sie jetzt einfach weiter auf den Bildschirm starren und sich um ihren eigenen Kram kümmern.
Aber das alles geht mich doch auch etwas an, oder etwa nicht?, denkt sie. Falls zwischen dem Notizbuch und dem, was in ihrer Wohnung oder mit Dancy passiert ist, ein Zusammenhang besteht, dann geht es sie, verdammt nochmal, sogar sehr viel an!
Das klingt, zumindest oberflächlich betrachtet, durchaus logisch, und mehr darf man ja auch sonst eher selten erwarten. Sie liest, was auf dem Deckel steht, und das Datum darunter. Natürlich versteht sie kein Wort und hasst es, sich so dumm zu fühlen, nur weil sie nicht ihr ganzes Leben an der Uni verbracht und Steine angeglotzt hat. Deacons und Chance’ Stimme sind sehr leise, aber sie ist sicher, dass sie hört, wie sie sich miteinander unterhalten, ihre Geheimnisse misstrauisch bewahren. Es ist also wohl nicht damit zu rechnen, dass einer von beiden allzu bald hier unten auftaucht.
Das hat er sich doch die ganze Zeit schon gewünscht, endlich wieder mit ihr allein zu sein. Dass sie ihn wieder braucht, und keiner von beiden gibt auch nur einen Scheiß darauf, was mit Dancy ist.
Und so lässt Sadie sich bereitwillig von einem neuen Eifersuchtsanfall blenden – bitterheiße Röte steigt ihr in die Wangen, und sie hat einen kalten Knoten im Magen. Sie nimmt das Notizbuch vom Couchtisch, zögert noch einen letzten Moment, weil ihr trotz der Eifersucht doch klar ist, dass sie einen Vertrauensbruch begeht. Etwas, das sie nie wieder ungeschehen machen kann, wenn es erst einmal passiert ist, ganz egal, mit welchen guten Gründen und Entschuldigungen sie sich dann herauszureden versucht oder ob sie die kleine Unschuld spielt, die ja keine Ahnung hatte. Und noch etwas anderes hält sie zurück. Hinter ihrem Zorn verbirgt sich auch ein hell strahlender Funke namenloser Angst. Vielleicht will sie gar nicht wissen, was in dem Buch steht. Selbstzweifel, die ihren eigentlich schon gefassten Entschluss wanken lassen. Sie denkt an Chance oben, den Wahnsinn in ihren Augen, denkt an die arme Dancy. Alles, überlegt sie, ich könnte alles dadurch verlieren.
«Vielleicht habe ich das schon», sagt Sadie Jasper und schlägt das Notizbuch auf. Auf der ersten Seite steht nichts, was ihre ganze Aufregung irgendwie rechtfertigen könnte. Nichts als Gekritzel in einer Handschrift, die sie nur lesen kann, wenn sie die Augen fest zusammenkneift. Was sie davon entziffern kann, sagt ihr ungefähr so viel wie der Titel auf dem Cover. Seite um Seite handelt ausschließlich von Trilobiten: die Sammlung von Trilobiten, die Anatomie von Trilobiten, wo man sie findet und in welchen Gesteinen, wie alt die Steine sind. Nachdem sie vierzig oder fünfzig Seiten überflogen hat, verdampfen ihre Wut und ihre Angst langsam, und sie kommt sich nur noch dumm vor, als hätte man ihr einen Streich gespielt, sie fühlt sich wie jemand, der allen Grund hat, sich dämlich vorzukommen.
«Scheiße», zischt sie und will das Buch schon
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