Fossil
gelesen», sagt er. «Selbst ihr Naturwissenschaftler müsst doch wohl von Zeit zu Zeit das ein oder andere Buch lesen?»
«Ja, Deacon, ich habe Beowulf gelesen.» Chance befühlt mit dem Finger der rechten Hand ihr angeschwollenes Gesicht und die Blutergüsse und stöhnt leise. «In der siebten Klasse.»
«Ich bin stolz auf dich, du hast zwar eine Beule am Kopf, aber zumindest bist du nicht ungebildet.» Deacon zwingt sich zu einem dünnen Lächeln, schlägt das Buch auf und blättert darin herum.
«Was soll das eigentlich alles?», fragt Chance und starrt schon wieder aus dem dunklen Fenster. In ihren grünen Augen spiegeln sich Angst und Sehnsucht. Deacon überlegt, ob es vielleicht besser wäre, das Fenster zu schließen, hat aber keine Ahnung, inwiefern das die Situation nun verbessern oder verschlimmern würde. Schließlich entscheidet er, dass es doch besser offen bleibt, und blättert wieder in Beowulf.
«Die Ausgabe hier habe ich in Dancys Seesack gefunden, was ich an sich schon ziemlich interessant fand. Ist nicht unbedingt das, was man im Gepäck eines obdachlosen Mädchens erwartet.»
«Dancy war nicht einfach obdachlos», sagt Chance, und in ihrer Stimme schwingt leichte Verärgerung mit.
Gut so, denkt er, besser als dieser posttraumatische leere Blick, mit dem sie ihn ansieht, seit er sie aus dem Impala geholt hat.
«Nein», sagt Deacon. «War sie nicht.»
«Sie hat versucht, es mir zu sagen. Sie hat es mir gezeigt.»
«Hör mir bitte eine Minute zu.» Er schlägt das Buch auf, und Chance beobachtet schweigend das Schlafzimmerfenster und wartet.
«Gestern Nacht hast du mich gefragt, was ich gesehen habe beim Tunnel. Also zunächst einmal Dancy, und die sagte etwas, das mir im Kopf geblieben ist. Ich hatte es irgendwo schon einmal gehört, das wusste ich, und als ich das Buch hier in ihrem Seesack entdeckte, fiel es mir wieder ein.»
Er hustet. Seine Kehle ist trocken, und hinter ihm auf der Kommode steht eine halbvolle Dose Cola. Er betrachtet sie einen Moment und wünscht, es wäre Jim Beam oder Wild Turkey, dann wendet er sich wieder dem Buch zu, hustet noch einmal und fängt an zu lesen.
«‹Die andere schreckliche Kreatur bewegte sich über die Pfade der Fremde in menschlicher Gestalt, nur dass sie viel größer war als jeder Mensch. In alter Zeit gab man ihm beim Landvolk der Gegend den Namen Grendel. Von seinem Vater wussten sie nichts, wussten nicht, ob er Brüder hat unter den bösen Wesen.›» Er hält inne, und Chance sieht nun ihn an und nicht mehr das Fenster.
«‹Sie haben ihre Wohnstatt in einem unbekannten Land, in Wolfsschluchten, auf windigen Felsklippen, an gefährlichen Sumpfpfaden, wo der Fluss aus den Bergen in der Dunkelheit unter den Hügeln verschwindet, zur unterirdischen Flut wird.›»
Einen Augenblick lang spricht keiner von beiden, dann schließt Deacon das Buch und legt es auf die Kommode neben die Coca-Cola-Dose.
«Du hattest eine Vision, in der Dancy aus Beowulf zitiert?» Er weiß, dass Chance sich Mühe gibt, nicht allzu ungläubig zu klingen, nicht zu skeptisch, ohne die starken Schmerzmittel wäre ihr das vielleicht sogar gelungen.
«Nicht nur das, Chance. Das ganze Gerede über die Kinder Kains in der Nacht, als sie uns den Finger gezeigt hat. Grendel und seine Mutter werden als Nachkommen Kains beschrieben. Und der Drachenkram…»
«Du glaubst also, sie hätte sich das alles nur ausgedacht?»
«Nein, das nicht. Es ist viel komplizierter. Aber ich glaube, dass Dancy Beowulf benutzt hat, um sich zu erklären, was sie erlebt, genauso wie andere Menschen die Bibel dazu benutzen.»
«Oder die Wissenschaft», unterbricht Chance ihn, lacht ein müdes, ironisches Lachen und schließt dann die Augen.
«Ja, jetzt wo du es erwähnst, auch die. Beowulf ist Teil ihres Glaubens, ihr Bezugsrahmen.»
«Gott, Deke, das ist alles so scheiße verdreht. Ich bin Scully und du Mulder, schon vergessen?»
«So war es zumindest immer», sagt Deacon und nimmt einen Schluck von der Cola, lauwarm und sirupsüß, aber besser als nichts, besser als das Wüstengebiet, das sich über seine hintere Zunge ausbreitet. «Aber das war noch nicht alles, falls es dir gut genug geht und du dir noch mehr anhören willst.»
«Los», sagt sie, öffnet die Augen zwar nicht, aber dreht sich auf die linke Seite, zu Deacon, und umarmt ihr Kissen, umarmt es ganz fest. «Ich höre», flüstert sie.
Sadie starrt auf den Bildschirm. Auf AMC läuft Beginning of the End, aber sie schaut
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