Fossil
Gold auf ihrem Gesicht, willkommenes Feuer auf ihrer Haut, doch ihre Augen tränen und brennen, als hätten sie nie zuvor das Licht gesehen, die Augen eines Gefangenen, der sein halbes Leben eingesperrt in der Dunkelheit verbracht hat. Chance blinzelt und wischt sich die ungerufenen Tränen von der Wange.
Ihre beiden Hände sind mit den staubigen Farben der Kreidestücke beschmiert, die sich in der Schale auf dem Aktenschrank befunden hatten, ein tief in ihre Haut geriebenes großes Pastellspektrum. Chance späht an den Kisten vorbei, am Schreibtisch vorbei und zur Tafel. Die ist mit den verschiedensten Verrücktheiten vollgekritzelt, Elise’ Name steht da immer und immer wieder, der Stern und das Heptagon sind fast nicht mehr zu erkennen oder völlig ausgewischt. Und als kein Platz mehr auf der Tafel war, muss sie auf den vormals weißen Wänden weitergemacht haben. Die sind jetzt mit Pink, Grün, Blau und Gelb überzogen, mit Handabdrücken, hastig hingeschmierten Zahlen und geometrischen Zeichnungen und wahrscheinlich tausendmal mit dem Wort Dicranurus. Einige der Buchstaben sind bestimmt einen Meter groß, andere wiederum so klein, dass sie sie von ihrer Zuflucht hinterm Schreibtisch nicht lesen kann. Chance lässt den Blick nach oben wandern, und da, unter der niedrigen Decke, prangt das Ding im Hämatit. Auf der Tafel ausgewischt ist es hier wieder da, über die ganze Breite des Zimmers gemalt. Chance kann sich zwar nicht daran erinnern, wie sie dazu auf den Schreibtisch gestiegen ist, weiß aber, dass es so gewesen ist, dafür muss sie nicht die Stiefelabdrücke auf den Papier- und Bücherstapeln und dem Kalender sehen, um da ganz sicher zu sein.
Etwas Heißes tropft ihr von der Nase, läuft ihr über die Lippen, und als Chance ihr Gesicht befühlt, haben ihre Fingerspitzen danach karmesinrotfeuchte Flecken, die sich mit den Kinderfarben auf ihrer Hand beißen, oder sind sie doch ein Teil des ganzen Bildes, von Anfang an geplant? Wenn ich jetzt schreie, höre ich nie, nie wieder auf, denkt sie und stellt sich vor, wie Alice Sprinkle sie hier so findet, den Gesichtsausdruck auf Alice’ Gesicht, und das reicht, damit Chance aufsteht und sich in Bewegung setzt. Sie überlegt, ob sie wohl irgendwo im Gebäude einen Schwamm und einen Eimer mit Wasser findet. Vielleicht ist im Präparationsraum unter der Spüle irgendwelcher Reinigungskram. Und dann fällt ihr ein, was da die Wasserrohre zu ihr hinaufgeklettert ist, sie erinnert sich an Elise’ Gesicht. Chance schaut hinauf zu dem Ding, das so sorgfältig über ihrem Kopf an die Wand gezeichnet ist. Eine perfektere Darstellung des Fossils, als sie es für möglich gehalten hätte, das Fossil und das Auge aus einem Albtraum. Chance vergisst das Chaos im Zimmer und wie stinkwütend Alice Sprinkle sein wird, greift nach dem Notizbuch ihrer Großmutter und läuft davon.
Deacon ist gerade unten im Flur und hat das Telefon wieder aufgelegt, als er das Quietschen durchdrehender Räder in der Auffahrt hört, als ob jemand draußen immerzu im Kreis fahren würde. Also geht er zur Tür. Die steht offen, aber die Insektenschutztür ist geschlossen, weil Sadie Angst vor Wespen hat. Durch den Draht sieht er Chance’ rotorangen Impala auf die Veranda zurasen, gefolgt von einer Staubwolke und einem Sprühregen aus Kies, und hinter dem Lenkrad sitzt Chance. Deacon kämpft noch mit dem Schnappverschluss des Insektenschutzes, als das Auto über den Rasen holpert, die Stufen vor dem Haus mitnimmt und seine Schnauze schließlich in das eine Ende der Veranda bohrt. Durch den Aufprall wird Deacon zu Boden geworfen, den Garderobenständer aus Messing reißt er mit sich.
«Was zum Teufel war das?», schreit Sadie irgendwo im oberen Stockwerk. Deacon schiebt den Garderobenständer von sich herunter. Es ist ein Wunder, dass keiner der Haken ihm ein Auge ausgestochen oder die Zähne ausgeschlagen hat. «Ich glaube, Chance ist wieder da, Süße», ruft er nach oben zu Sadie.
Er steht auf und öffnet die Insektenschutztür, die er dann mit einem Knall hinter sich zuschlagen lässt. Draußen wird er sofort von einem dicken Nebel aus Staub und Kühlerdampf eingehüllt, sodass er kaum atmen kann. Er hustet, zieht sich sein T-Shirt über Mund und Nase und läuft über die gekrümmten Bretter der Veranda dorthin, wo einmal die Stufen waren. Davon ist, abgesehen von ein paar Zementblöcken und einigen gebrochenen Streben, nicht mehr viel übrig, die Stufen selbst sind komplett abrasiert. Er
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