Fossil
nicht hindurchsehen kann. Mit Maisbart-Haaren, rosafarbenen Augen und erschreckend blutroten Pupillen. Es ist gefährlich, damit draußen in der Sonne herumzuspazieren oder Auto zu fahren, aber zumindest kann man jemanden wie Dancy Flammarion schlecht übersehen. Schwer, nicht zu glotzen, nur ist Dancy diesmal froh darüber, dies eine Mal macht es nichts, dass das Mädchen sie anstarrt, vielleicht geschieht es nicht einmal absichtlich, aber die Augen des Mädchens weiten sich, dann sieht es rasch zur Seite. Nett, denkt Dancy. Sie ist schon so daran gewöhnt, dass es den Leuten scheißegal ist. Als wären die in einer Freakshow auf dem Jahrmarkt und hätten dafür Eintritt bezahlt. Wie käme sie da dazu, verletzt zu sein, weil man sie angafft, über sie lacht oder mit wurstgemeinen Fingern auf sie zeigt? Aber das Mädchen hier starrt auf seine abgescheuerten ledernen Arbeitsstiefel, während es vorbeigeht, als ob es Dancy gar nicht gesehen hätte. Also muss Dancy etwas sagen, damit es stehen bleibt, hat aber noch immer keine Ahnung, was. Ein hastiges «Hi». Geht das Mädchen vielleicht einfach weiter? Hat es vielleicht Angst, dass sie bettelt und überzähliges Kleingeld will? Denkt sich: Seltsame Albinobettler in der verdammten öffentlichen Bücherei heutzutage, und geht weiter, bis es jemanden vom Wachpersonal findet, der Dancy rausschmeißt?
Nein, das tut es nicht, nicht dieses große Mädchen, es dreht sich um, dreht sich, und seine Augen sind grün. «Hi», sagt es und versucht, Dancys Blick zu erwidern, ohne dabei zu starren, bemüht sich, das eine zu tun und das andere zu lassen.
«Hi», sagt Dancy noch einmal. Das Mädchen wirkt langsam verwirrt, und Dancy überlegt angestrengt, was jetzt, aber diesen Teil hat sie nie geträumt und deshalb keine Ahnung, was sie zu einer völlig Fremden sagen soll.
«Kann ich irgendwas für dich tun?», fragt das Mädchen und schiebt den Karton unterm Arm zurecht, sodass Dancy fast erkennen kann, was drin ist.
«Was hast du in dem Karton?», fragt sie, das geht sie eigentlich nichts an, ist aber das Erste, was ihr einfällt, und so sagt sie es, wahrscheinlich eine ebenso gute Eröffnung wie jede andere, weil sie dem Mädchen die Wahrheit nicht sagen kann, und mit Blickkontakt allein kommt sie hier nicht mehr weiter.
«Oh», sagt das Mädchen, vielleicht einen Hauch von Erleichterung in der Stimme, weil es jetzt eine Entschuldigung hat, für einen Moment wegzusehen, einen Moment, um in den Karton zu schauen, als ob es sich nicht erinnern könnte, was darin ist. «Nur ein paar alte Unterlagen. Ein paar alte Manuskripte meines Großvaters, die ich der Bibliothek spende.»
«Will er sie nicht mehr haben?», fragt Dancy, und das Mädchen runzelt die Stirn, nicht böse, aber Dancy weiß, dass sie etwas Falsches gesagt hat, auch wenn ihr nicht bewusst ist, weshalb genau. Bevor sie sich entschuldigen kann, tut mir leid, geht mich wirklich nichts an, runzelt das Mädchen nicht mehr die Stirn, sondern schaut sie offen an, als ob Dancy irgendein normaler Mensch wäre, der eine vollkommen normale, unwichtige Frage gestellt hat.
«Er ist tot», sagt das Mädchen, sachlich, als ob es Dancy berichtete, dass es draußen heiß sei und dass es auch morgen wieder heiß werde. «Er ist letzte Woche gestorben, und ich dachte, der Kram ist hier besser aufgehoben.»
«Oh», sagt sie. «O Gott, das tut mir leid. Ich wollte nicht, also, ich meine, ich hätte niemals…»
Aber das Mädchen schüttelt den Kopf. «Nein, nein, schon gut. Das konntest du ja nicht wissen.»
Hätte ich es wissen können, wissen sollen?, überlegt Dancy.
«Es sind nur ein paar alte Papiere», sagt das Mädchen noch einmal. «Kram, den ich aus seinem Büro aussortiert habe und jetzt ins Archiv gebe.»
«Ich heiße Dancy. Dancy Flammarion», eine Hand ausgestreckt, und das Mädchen stellt sich kurz an, als hätte niemals zuvor jemand versucht, ihm die Hand zu schütteln. Es schiebt den Karton wieder in Position, und diesmal hört Dancy das Papier drinnen hin und her rutschen.
«Ich bin Chance», erwidert es, nimmt endlich Dancys Hand und drückt sie etwas zu fest beim Schütteln. «Chance Matthews.» Dancy lächelt und versucht, einen freundlichen Eindruck zu erwecken, hofft, dass sie in ihren dreckigen Klamotten nicht wie eine Geisteskranke von der Straße wirkt.
«Chance», sagt sie. «Wie zum Teufel bist du zu dem Namen gekommen?»
Chance Matthews zuckt einmal die Schultern und lächelt nicht gerade, aber
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