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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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Geologe ist.» Gleich darauf wünscht sie schon, sie hätte sich nicht sofort angegriffen gefühlt. Chance wollte damit nicht andeuten, dass sie sie für blöd hält, das weiß Dancy. Aber sie ist eben nur ein paar Jahre zur Schule gegangen, und dann die ganzen Leute, die der Meinung sind, Albino wäre gleichbedeutend mit geistig behindert.
    «Entschuldige», sagt Chance und legt die Mappe zurück in den Karton. «Du wärst erstaunt, wie viele Leute das nicht wissen.»
    Dann ein paar Sekunden Schweigen, das Schweigen klemmt zwischen ihnen wie ein Keil, Chance sieht auf den Karton, auf die Manuskripte ihres toten Großvaters, und Dancy blinzelt in den grausamen Tag, der sie vom dunklen kalten Gebäudeeingang am anderen Ende des Verbindungsgangs trennt. Vielleicht dreißig Meter noch, bestimmt nicht mehr als dreißig Meter bis zur Tür, doch Chance sitzt in der Sonne, als ob sie noch nie von Hautkrebs gehört hätte, als ob niemand sie je über Melanome aufgeklärt hätte. Chance und ihr unmögliches sonnengebräuntes Gesicht, ihre braunen Arme.
    «Wieso gibt es eigentlich zwei verschiedene Gebäude?», fragt Dancy. Das scheint Chance wieder zurück in die Gegenwart zu holen, fort von jenem Ort, an den ihre Gedanken gewandert sind. Sie schaut von der einen Straßenseite zur anderen und dann zu Dancy.
    «Der Teil, in dem wir eben waren, ist die neue Bibliothek. Die wurde 83 eröffnet. Und der Teil drüben», sie deutet mit dem Kopf zur anderen Seite des Verbindungsgangs, «das ist die alte Bibliothek.»
    «Wie alt?», fragt Dancy.
    «1925, glaube ich. Er wurde gebaut, nachdem das ursprüngliche Gebäude niedergebrannt ist.»
    «Oh», sagt Dancy und macht einen Schritt in die Sonne, ein vorsichtiges Unternehmen, gerade so weit, dass sie nun beide Gebäude erkennen kann, die rasiermesserscharfen geschliffenen Umrisse der neuen Bibliothek, eine kauernde, glatte Fassade aus Glas und namenlosem grauem Stein wie hässliches Lego, eines jener Gebäude, die sogar im heißen Licht der Sommersonne kalt wirken können. Auf der anderen Straßenseite hingegen etwas, das an einen antiken Tempel aus Kalkstein erinnert, mächtige Säulen tragen die oberen Stockwerke, und die Namen großer Künstler und Wissenschaftler, Dramatiker und Lyriker sind in einen Fries graviert, der um die oberen Gebäudeteile herumläuft. «Es ist wie eine Zeitmaschine», sagt Chance. «Wenn man die Straße überquert, überspringt man dabei fünfundsiebzig Jahre, ein Dreivierteljahrhundert mit ein paar wenigen Schritten. Auf der einen Straßenseite herrscht Prohibition, und der Zweite Weltkrieg ist noch Jahre entfernt, und auf der anderen haben wir Reagan und Aids.»
    Dancy sieht zu ihr hinunter, und Chance starrt hinüber zum alten Bibliotheksgebäude. «Komm mal her, ich möchte dir etwas zeigen.» Sie steht auf, der Karton wird wieder hochgehoben, und Dancy folgt Chance über die Straße, Autos hupen und rasen unter ihnen dahin, die Sonne beißt in Dancys Haut, aber sie tut so, als würde sie nichts spüren. «Dahinten», sagt Chance. «Neben dem Bürgersteig im hohen Gras.» Zuerst entdeckt Dancy nichts Besonderes außer einem sandgrauen Streifen Bürgersteig und ungemähtem Gras an der Ecke des Gebäudes. Dann zeigt Chance direkt darauf, und tatsächlich, etwas Kohlefarbenes schaut aus dem Grün heraus, etwas, das aussieht wie ein in matten rauchgrauen Stein gegossener Baumstumpf.
    «Ist das eine Skulptur?», fragt sie.
    «Nein», sagt Chance. «Mein Großvater hat den Stein in den Vierzigern bei Warrior in einer Kohlenmine gefunden. Es ist das Fossil eines Baumstumpfs.» Jetzt erkennt Dancy die Wurzeln, die wie Tentakel aus dem Ding herauswachsen und sich ins Gras schlängeln. «Er hat es der Bibliothek geschenkt und in Zement gegossen. Wohl damit es niemand stehlen kann. Früher stand daneben ein kleines Holzschild. Na ja, jedenfalls glauben die meisten heute bestimmt, es ist nur irgendein Stein und dass sich einfach bisher niemand die Mühe gemacht hat, ihn fortzuschaffen.»
    «Wow», flüstert Dancy und ist froh, dass sie sich wieder über Tatsachen unterhalten können. «Wie alt ist das Ding?»
    «Ungefähr zweihundertzehn-, vielleicht sogar zweihundertzwanzigtausend Jahre. Es ist gar nicht so schwierig, ein solches Exemplar auf den Kohlefeldern zu finden.» Chance sieht wieder runter auf den Suppenkarton, als ob sie ihn für einen Moment vergessen hätte und sich jetzt erst wieder an ihn erinnert. «Möchtest du die alte Bibliothek mal

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