Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
Vom Netzwerk:
immerhin runzelt sie auch nicht mehr die Stirn. «Das hat mir nie jemand erzählt. Wahrscheinlich hat meine Familie es damals für eine gute Idee gehalten.» Noch ein Blick auf den Campbell’s-Tomatensuppe-Karton, und sie sagt: «Der wird langsam ganz schön schwer. Ich wollte gerade zum Fahrstuhl.» Sie gibt Dancys Hand frei und zeigt dann auf die beiden glänzenden Metalltüren des Fahrstuhls am Ende des kurzen Gangs hinter den Rolltreppen. «Die Archive sind drüben im alten Gebäude, und die Verbindung befindet sich im zweiten Stock.»
    Dancy entschuldigt sich, weil sie das Mädchen dazu gezwungen hat, so lange mit dem schweren Karton herumzustehen, läuft voraus und drückt den Aufwärts-Knopf, ihr Seesack schwingt hin und her, während sie rennt, ein gefährliches Leinenpendel. Es klingelt laut, und dann gleiten die Fahrstuhltüren auf wie eine Geheimtür in der Wand. Dancy hält den Lift offen, bis Chance ihn erreicht. «Zweiter Stock?», fragt sie, um sicherzugehen, immer noch lächelnd. Chance nickt, ganz offensichtlich immer verwirrter. «Danke», sagt sie, und so drückt Dancy den pfefferminzweißen Knopf mit einer kühnen schwarzen Nummer zwei darauf. Der Knopf leuchtet gelb, und die Fahrstuhltüren schließen sich wieder, langsam und leise.
     
     
    Fast zwei Jahre her, seit sie zum ersten Mal von Chance geträumt hat, da lebte ihre Mutter noch, ihre Großmutter lebte noch, und ein Hurrikan drehte sich wütend gegen den Uhrzeigersinn irgendwo südlich von ihrer Hütte in der Wildnis von Okaloosa. Ein mächtiger Hurrikan, der irgendwo vor der Küste lauerte, der hinterm Luftwaffen-Stützpunkt Eglin und Fort Walton Beach festsaß, hinter den Vorstädten und Touristenfallen am Strand. Dort hockte er über golftiefem Wasser. Lediglich seine ausgefransten Enden waren schon fast nah genug, um die Sümpfe zu ersäufen, an den Fenstern zu rütteln und die Rohre zu verbiegen, bis sie stöhnten und ächzten. Ihre Mutter hörte Radio, während ihre Großmutter ängstlich die regendunklen Fenster anstarrte. Die Öllampe warf Schatten an die Wand, die Ungeheuern glichen. Dancy war eingeschlafen, während sie diese Monster beobachtete und dem Wetterbericht lauschte, den aufgeregten Stimmen von Männern und Frauen, die Geschwindigkeit und Position des Sturms durchgaben, versuchten, seine graublauen Absichten vorauszuahnen.
    Endlich war sie zu müde, um weiter Angst zu haben. Sie konnte ja sowieso nichts tun, keine von ihnen konnte irgendetwas tun, außer zu hoffen, dass der Sturm nach Süden oder Westen weiterziehen würde, überallhin, nur nicht nach Norden.
    «Wir hätten hier abhauen sollen, solange wir noch konnten», sagte ihre Mutter immer wieder in vorwurfsvollem Ton in Richtung der Großmutter, um der die Schuld daran zu geben, dass sie nicht geflohen waren; ihre Großmutter sah die Schuld wohl auch bei sich, denn sie brachte kein Wort zu ihrer Verteidigung vor, sondern beobachtete nur die Fenster. Dancy schloss die Augen, vertraute darauf, dass die Ungeheuerschatten ihr nicht zu nahe kommen würden, und war einen Augenblick später eingeschlafen.
    Der Sturm hatte zumindest so viel Anstand, nicht in ihrem Kopf herumzuspuken, sie nicht bis in ihre Träume zu verfolgen; stattdessen fand sie sich vor einem großen weißen Haus wieder, kein Ort, an dem sie schon einmal wirklich gewesen wäre, und sie dachte: Man muss richtig reich sein, um in so einem Haus zu leben, einem Haus mit Strom und so vielen Zimmern, einem Haus in der Stadt. Die Sonne brannte heiß auf ihrer unbedeckten Haut, aber das Gras war kühl an ihren nackten Füßen, nackten Zehen, und da sah sie das Mädchen am Fenster sitzen, am Dachbodenfenster weit oben, es blickte zu ihr herunter. Das Mädchen mit dem braunen Haar und den grünen Augen, die sie geradewegs anschauten, ohne sie zu sehen.
    Dancy winkte, aber das Mädchen ignorierte sie oder bemerkte sie nicht, die ausdruckslose Miene blieb gleich. Sie drehte sich um, hoffte, sie würde erkennen, wonach das Mädchen Ausschau hielt. Ich stehe auf einem Berg, dachte sie, guckte hinab auf Baumwipfel und Dächer und in der Ferne die Skyline der Stadt, Türme aus Glas und Stahl und Stein, Schleifen aus Autobahnasphalt. Sie war vorher noch nie auf einem Berg gewesen, nicht einmal einem kleinen wie diesem, und ihr wurde ein bisschen schwindlig davon. Der Himmel war einem näher, als er sein sollte, die Welt in einem unnatürlichen Winkel geneigt. Rasch setzte sie sich auf das kühle grüne Gras, um

Weitere Kostenlose Bücher