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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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nicht hinzufallen.
    «Sieh nicht hin», rief das Mädchen am Fenster zu ihr herunter. «Sieh es nicht an, Dancy.» Also wusste es doch, dass sie da war. Dancy drehte sich um, weil sie dem Mädchen sagen wollte, dass es ziemlich unhöflich gewesen war, so zu tun, als hätte es sie vorher nicht bemerkt, und was überhaupt sollte sie sich nicht anschauen. Aber das Mädchen war fort, das Dachbodenfenster leer, spitzenweiße Gardinen flatterten und drehten sich in der heißen Brise, die vor einer Sekunde noch nicht geweht hatte.
    Und dann ein Geräusch, wie ein weit entfernter Güterzug – das dumpfe Rollen und Summen von Stahl und das Verrutschen der Ladung. Aber Dancy wusste, dass es kein Zug war, dass dieses Geräusch aus dem Boden unter ihren Füßen kam, ein Zug oder ein Gewitter, die irgendwo unter der Erde gefangen waren und lauter wurden. Jetzt fühlte sie auch etwas, Erschütterungen an ihren aufgestützten Handflächen, an den Fingerspitzen, und dann stand das braunhaarige Mädchen über ihr, eine Hand ausgestreckt, um Dancy auf die Füße zu ziehen, während der Boden sich in Wellenbewegungen zu heben und senken begann, zu schlingern und gieren wie ein kleines Boot auf rauer See.
    «Du hättest auf keinen Fall herkommen dürfen», sagte das Mädchen, und Gott, es sah so traurig aus dabei, nicht panisch, weil der Boden aufbrach wie eine überreife Frucht, aufbrach und Schwaden staubigen Dunstes herausbluteten, zusammen mit dem Gestank nach etwas Totem, das zu lange in der Sonne gelegen hat, nein, einfach nur traurig, und dann rannten sie. Rannten zurück zu dem riesigen weißen Haus, und Steine und Felsen befreiten sich vom Berg und rollten durch den Garten auf sie zu.
    Sie wollte dem Mädchen sagen, dass sie herkommen musste, wegen dem, was mit ihrer Mutter passiert war, was mit ihrer Großmutter passiert war, dass sie den Abzug gedrückt hatte, was hätte sie auch sonst tun sollen, außer den Abzug zu drücken, andererseits konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, was überhaupt geschehen war. Lediglich ein Gefühl von Schwindel und Verlorenheit, wo sich noch vor einem Moment ihre Erinnerungen befunden hatten.
    «Das spielt jetzt alles keine Rolle mehr. Du hast getan, was du tun musstest, mehr nicht», sagte das Mädchen.
    Die Erde unter ihren Füßen bellte wie ein Mississippi-Alligator und bäumte sich in einer einzigen großen Welle auf, um den Berg und das hübsche weiße Haus zu zerschmettern. Eine Flutwelle aus Erde, zerborstenen Steinen und sich windenden kleinen Kreaturen, die im Humus gefangen waren, rollte auf Dancy zu. Hilflos lag sie mit dem braunhaarigen Mädchen in dem aufgerissenen Graben, sie hielten sich bei den Händen und warteten aufs Ertrinken.
    Die Türen öffnen sich, und Dancy folgt Chance beim Verlassen des Fahrstuhls, vorbei an Regalen mit Naturwissenschafts- und Computerzeitschriften, vorbei an der Kinderbuchabteilung und einem strahlenden violetten Pappdinosaurier, und dann kommt der Verbindungsgang; die Nabelschnur des zweiten Stocks aus Stahl und Glas führt über die Straße unten hinweg. Chance bleibt stehen und sieht Dancy an. Es ist sehr hell hier im Gang, die Zwei-Uhr-Nachmittagssonne scheint direkt durch das rauchig getönte Glas. Die kühle klimatisierte Luft schafft es nicht aus dem Gebäude heraus, hängt hinterher wie Dancy, verweilt in den Schatten. Im Verbindungsgang stehen drei antike Holzbänke, vielleicht ausrangierte Kirchenbänke. Ihr gelbbraunes, in den Teppich geschraubtes Holz brät hier draußen in der Sonne. Chance setzt sich auf die erste Bank und stellt den Karton zwischen ihre Füße. Jetzt kann Dancy das Papier darin erkennen, und mehr ist wirklich nicht darin, nur altes Papier und Notizbücher.
    «Läufst du mir zufällig hinterher?», fragt Chance.
    Zwecklos, es zu leugnen, also lässt Dancy es und deutet stattdessen auf den Karton. «Worüber hat dein Großvater geschrieben?», antwortet sie mit einer Frage. Vielleicht kann sie damit ein paar Minuten herausschlagen, Chance so lange wie möglich hinhalten, wenn sie ihr nämlich die Wahrheit sagen muss, wird sie sie nie Wiedersehen.
    «Steine», sagt Chance, die Stimme plötzlich monoton, ausdruckslos, als ob sie nicht darüber reden will, doch schon steckt sie eine Hand in den Karton und holt eine Mappe heraus, die mit Papier vollgestopft ist. «Vor allem Fossilien. Er war Geologe. Weißt du, jemand, der sich wissenschaftlich mit…»
    «Ich bin kein Dummkopf», schimpft Dancy. «Ich weiß, was ein

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