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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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sehen?»
    Dancy nickt. «Ja, danke, das wäre schön.» Dabei denkt sie die ganze Zeit darüber nach, dass 1925 überhaupt nicht lange her ist, dass 1925 erst eine Woche zurückliegt, verglichen mit dem Alter des grauen Steinklumpens dort drüben neben dem Bürgersteig.
    «Na, dann komm», sagt Chance Matthews, «der Karton wird nicht gerade leichter.» Sie führt Dancy aus der verhassten Sonne in die freundliche Dunkelheit. Vielleicht geht es doch noch gut ab, denkt die, vielleicht wird sie mich anhören, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Und die Kalksteinblöcke, die hier aufeinandergefügt und mit Mörtel verfugt dastehen, seit Dancys Großmutter in ihrem Alter war, schließen sich beschützend um sie und Chance.
    Eine Stunde später hat Chance den Karton mit den Papieren im Keller der Bibliothek zurückgelassen, hat sie einer pausbäckigen, rotwangigen Frau übergeben, die lächelte und ihr eine gelbe Quittung gab, die Chance gleichgültig in die Vordertasche ihrer Jeans stopfte. Dann hat sie Dancy zurück ins Erdgeschoss gebracht. Diesmal in einem mit Holz ausgekleideten Fahrstuhl, dessen Getriebe und Eisenstränge schepperten, zitterten wie ein alter Mann, der wach zu werden versucht. Aber er brachte sie trotzdem nach oben, langsam, ins Erdgeschoss zu der riesigen Galerie der Südstaatengeschichte. Die alphabetische Aufstellung der Bücher ist hier nach den einzelnen Staaten unterteilt, und zwei ganze Gebäudeflügel sind allein für den Bürgerkrieg und Genealogie reserviert.
    Aber am faszinierendsten ist das Gemälde, das alle vier der hohen Wände mit historischen und mythischen Gestalten schmückt, aus Literatur und Legenden, eine Ölfarbenparade der Helden und Heldinnen. Chance und Dancy sitzen zusammen an einem langen Lesetisch, auf dem Messinglampen mit Schirmen aus grünem Glas stehen. Durch die großen Fenster fällt Tageslicht herein statt des antiseptischen Scheins der Leuchtstoffröhren im neueren Gebäude auf den anderen Seite der Straße. Diese Bibliothek ist in fast jeder Beziehung das genaue Gegenteil von der gegenüber. Wie hat sie es da nur zwei Wochen lang ausgehalten, überlegt Dancy, ohne auch nur zu ahnen, dass es auch etwas wie das hier gab?
    Chance zeigt auf eine Figur, die ein Schriftzug als Sigurd ausweist, fünfeinhalb Meter ragt er auf über den Büchern, Sigurd und die schöne Brynhild, die ihn auf einer Bank sitzend beobachtet, in deren Lehne ein kauernder Drache mit langen Zähnen eingeschnitzt ist.
    «Ist das nicht cool?», fragt Chance, und Dancy nickt. «Gemalt hat die Bilder ein Künstler namens Ezra Winter in den Zwanzigern, und zwar in seinem Atelier in New York, dann hat man sie den ganzen Weg hier herunter transportiert und mit Bleiweiß an den nackten Wänden befestigt. Ich habe diesen Saal geliebt als Kind, bin mit dem Bus hergefahren und habe dann den ganzen Tag hier gelesen.»
    Sie verstummt, vielleicht hatte sie das eigentlich gar nicht erzählen wollen, weder Dancy noch sonst jemandem. Dancy zeigt auf eine der anderen riesigen Figuren an der Wand. Noch ein Drache, dazu weiße Blüten an einem Baum – Konfuzius. Sie lächelt für Chance, lächelt gegen die Melancholie an, die wie eine Klapperschlange in diesem Mädchen zusammengerollt liegt. Das war eines der Wörter ihrer Großmutter, Melancholie statt schlichter, einfacher Traurigkeit, und Dancy bekommt zum ersten Mal seit Wochen Heimweh.
    Dann sieht Chance auf ihre Armbanduhr und flüstert: «Verdammt.» Ein sanftes, aber dennoch eindringliches Bibliotheksflüstern. «Ich muss los», sagt sie. Dancy hätte fast nein gesagt, bleib noch ein bisschen; es ist, als hätte ihr Heimweh einen Dämon heraufbeschworen, der Chance die Uhrzeit bemerken ließ, um es noch schlimmer zu machen. Aber im Augenblick kann sie sich so etwas auf keinen Fall leisten, noch ist es nicht so weit, sie darf jetzt nicht zu aufdringlich werden und damit alles verderben, nachdem sie schon so weit gekommen ist. Also nur: «Wie schade.» Das muss reichen statt des Gefühlsschwalls, den sie wirklich empfindet, statt der Dinge, die sie Chance wirklich sagen möchte.
    «Ich muss noch ein paar Sachen erledigen», sagt Chance. «Ätzender Kram, muss aber gemacht werden.» Sie steht auf und schiebt den Stuhl zurück. Dann schaut sie runter auf Dancy, als würde sie sie gerade zum ersten Mal sehen. Aber diesmal geht es bei diesem Blick nicht um ihre weiße Haut und die roten Augen, das weiß Dancy, diesmal sind es ihre schäbigen Klamotten und

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