Fossil
wahr, mein Freund?», fragt Deacon den Dicken, und jetzt beobachtet die ganze Bar sie, alle alkoholglänzenden Augen verengen sich und spähen aus den dunklen Ecken herüber, all diese Gesichter, die gespannt abwarten, ob es vielleicht noch richtig interessant wird.
«Wenn du noch ein einziges Wort zu mir sagst, brauchst du den Abdecker, du verrückte Judentunte», knurrt der Dicke. «Ich habe es nicht nötig, mich hier in einer öffentlichen Bar beleidigen zu lassen, weil du jeden Scheiß glaubst, den sie dir erzählen. Verdammt, ich sollte mal meinen Verstand untersuchen lassen, weil ich überhaupt hierherkomme.»
Und schon ist Deacon auf den Beinen, die Hände schneller als das Auge, zu schnell für den Dicken, der nur noch einen kleinen quiekenden Laut herausbringt, den Laut einer Maus, auf die gerade jemand drauftritt, dann zieht Deacon den Kerl bei den langen Haaren und packt ihn mit der anderen Hand bei der ausgebeulten Jeanshose am Hintern. Es sieht fast aus, als hinge der Dicke an unsichtbaren Klaviersaiten, baumelte da schwerelos ein paar Zentimeter über dem dreckigen Fliesenboden, während Deacon ihn in Richtung Tür schiebt. Das Bierglas hat der Dicke dabei nicht losgelassen und setzt es nun als Waffe ein, ein Totschläger aus geschliffenem Glas, mit dem er wild um sich drischt, und das Bier klatscht gegen die Wände, durchnässt Deacon, bis der Dicke sich mit dem Glas selbst am Kopf trifft und aufheult. Noch zwei, zweieinhalb Meter bis zur geschlossenen Tür. Dem Mann läuft Blut übers Gesicht, Blut in die Augen, und Deacon überlegt träge und benebelt, ob er wohl so viel Kraft hat oder ob der Kerl schwer genug ist, ob sie zusammen schnell genug sind, ob sie genug Fahrt draufkriegen, um das rotbemalte Glas zu durchbrechen. Doch da öffnet ein schlaksiger Junge in einem gelben T-Shirt die Tür und springt schnell beiseite, als der Dicke aus dem PLAZA in den strahlend hellen Julinachmittag segelt, auf den Bürgersteig stolpert und schließlich mitten auf der Straße auf seinem Arsch landet.
Deacon schließt die Tür schnell wieder und legt den massiven Riegelbalken vor. Sie hören den Mann kurz fluchen, er bellt draußen in der Hitze etwas von Katholiken und Homos und verdammten Außerirdischen, alles Weitere geht in Reifenquietschen unter, das Blöken der Hupe folgt wie ein Ausrufezeichen. Deke dankt dem schlanken Jungen, der die Tür geöffnet hat, starrt einen Moment dessen bananenfarbenes Hemd an und schlendert dann langsam zurück zu seinem Barhocker.
«Du bist verrückt», grollt Sheryl leise, noch immer den Hörer in der Hand. «Eines Tages legst du dich mit dem Falschen an, und der wird dir deinen Pennerhintern anständig versohlen. Das ist dir doch wohl klar?»
Ja, sagt er, natürlich, wie du meinst, du bist der Boss, Lady, aber sie hängt den Hörer wieder ein, Wut wird zu Verachtung. Dann schenkt sie ihm ein neues Bier aus, obwohl er gar keines bestellt hat, in seinem Glas sind bestimmt noch zwei Fingerbreit von der dünnen Plörre.
«Geht aufs Haus, du scheißverrückter Säufer», sagt sie, runzelt die Stirn, und Deacon Silvey trinkt erst das warme Bier aus, bevor er sich einen Schluck von dem kalten genehmigt.
Wenn man Deacon Silvey fragt, wann genau sein Leben eigentlich in der Kloake gelandet ist, um aus selbiger nie wieder herauszukriechen, wird er unfehlbar von jenem Oktobernachmittag und der geleckten Vorstadt in Alabama erzählen, wo er aufgewachsen ist; Oktober 1970, er war acht Jahre alt. Seine Mutter hat damals ihre Autoschlüssel verloren. Sie hat versprochen, mit ihm ins Kino zu gehen, er kann sich aber nicht mehr erinnern, in welchen Film, egal, das ist auch nicht wichtig, dann konnte sie jedenfalls ihren Schlüssel nicht finden. Sein Vater harkte hinten im Garten Blätter, und seine Mutter suchte das Haus ab, verärgert, sah unter die Sofakissen, kniete sich hin, um unter den Lehnstuhl zu schauen, unter den Geschirrschrank. Deacon behielt die Uhr im Auge. Gleich war es zu spät, noch zehn Minuten, und sie würden es sowieso nicht mehr rechtzeitig in die Vormittagsvorstellung schaffen.
Also suchte Deacon in ihrer Handtasche, die auf dem Sofatisch lag, weil die Schlüssel eigentlich da drin hätten sein müssen, nur deshalb hat er den Metallverschluss geöffnet. Der durchdringende Geruch von neuem Lackleder, bevor ihm schlecht wurde, ein plötzlich stechender Schmerz hinter den Schläfen, sein Magen drehte sich um, und als Deacon wieder zu sich kam, lag er auf
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