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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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Phosphor, denn es ist ja niemand mehr da, nach dem sie rufen könnte, niemand, der das Licht anmachen und ihr sagen könnte, dass es ja nur ein Traum war, der jetzt vorbei ist, niemand, der sie in die Arme nehmen und festhalten oder ihr irgendetwas Nichtssagendes und Beruhigendes ins Ohr flüstern könnte. Ihr rechter Arm ist eingeschlafen, es fühlt sich an wie unzählige kleine Nadelstiche, als sie sich auf den Rücken dreht und hinauf zur Decke starrt, auf die hellen und dunklen Aquarellmuster starrt, die der Bildschirm auf die hohe Decke malt.
    Gewehrschüsse und erstauntes Rufen im Fernseher. Chance merkt, dass sie sich übergeben muss, und probiert einen Trick, den Deacon ihr einmal beigebracht hat. Man muss von hundert rückwärtszählen – hundert, neunundneunzig, achtundneunzig, siebenundneunzig –, aber dafür ist es jetzt zu spät. Wenigstens schafft sie es noch bis zum Badezimmer unten, bevor sie die gesamten halbverdauten Ravioli erbricht. Sie würgt mit dem Kopf über der Toilettenschüssel, bis ihr Magen leer ist, und überlegt, ob sie wohl eine Lebensmittelvergiftung oder einen Virus hat, dann spült sie und lehnt sich gegen die Wanne, die Kacheln fühlen sich kühl an auf der Haut. Mit einem Bausch Toilettenpapier wischt sie sich dann den Mund ab, wirft ihn fort und schließt die Augen, ihr Herz schlägt jetzt etwas langsamer. Sie fühlt sich schon deutlich besser, die Übelkeit verschwindet so schnell, wie sie kam.
    Sie versucht, nicht daran zu denken, dass sie im Badezimmer ist, weil sie das nur an den Traum erinnern würde, versucht, an gar nichts zu denken außer an Der Mann, der Liberty Valance erschoss, der Film läuft laut im Wohnzimmer. John Wayne versteckt sich in einer Nebenstraße, damit Jimmie Stewart glaubt, er selbst wäre derjenige, der Lee Marvin getötet hat, dass er ein Held ist, und am Ende kriegt er dann die Frau. Einer der Lieblingsfilme ihres Großvaters, fast alles mit John Wayne gehörte zu seinen Lieblingsfilmen. Heiße Tränen laufen ihr über die Wangen, bevor sie an etwas anderes denken kann. Es gibt keine sicheren Gedanken mehr, keine Erinnerung, keinen Gedanken, der für sie nicht ruiniert wäre, der nicht nur darauf wartete, sie zu stechen, zu beißen. Und dann klingelt das Telefon.
    «Lasst mich verdammt nochmal in Ruhe», brüllt sie das Ding an, aber vom Schreien dreht sich ihr der Magen wieder um, und deshalb lässt sie es.
    Das vierte Klingeln, der Anrufbeantworter geht an, und man hört Joe Matthews’ Stimme, Herrgott, sie hat noch nicht einmal die Ansage auf dem beschissenen Anrufbeantworter geändert. Ihr Großvater bittet, dass der Anrufer Nummer und Namen hinterlassen soll, den Tag und die Uhrzeit, ihr Großvater meldet sich aus dem Grab. Seine Stimme ist im Lautsprecher des Blechkastens gefangen, wird scheppernd abgespult. Chance schafft es aufzustehen, und sie will die zehn oder fünfzehn Schritte zum kleinen Sofa im Flur gehen, wo das Telefon steht, als der Piepton erklingt. Ihr Magen fühlt sich so mies an, dass sie sich schnell auf den Badewannenrand setzt. Eine kurze Pause, dann räuspert sich Deacon Silvey.
    «Chance?», fragt er, als ob er weiß, dass sie da sitzt, als ob er es wissen könnte. «Heb ab, falls du mich hörst.» Eine längere Pause.
    Er ist wirklich der letzte Mensch, mit dem sie gern reden würde, vielleicht ist das hier also immer noch ein Albtraum, vielleicht wacht sie auf, wenn sie sich richtig heftig kneift.
    «Ja, okay.» Der skeptische Ton sagt: Ich weiß, dass du da bist, ich weiß, dass du nur einfach nicht mit mir sprechen willst. «Hör mal, es gibt etwas, worüber wir reden müssen, und es ist zu verdammt bizarr, um das am Telefon zu besprechen.»
    «Schon klar», murmelt Chance und sieht wieder in die Toilettenschüssel, in der der Bausch Toilettenpapier herumschwimmt, mit dem sie sich das Erbrochene vom Mund gewischt hat, und ihr Magen zieht sich bei dem Anblick wieder zusammen.
    «Ich weiß, dass du nicht mit mir reden willst, ich hätte auch nicht angerufen, aber…»
    «Du bist ein Arschloch», murmelt Chance.
    «Na ja, es gibt da dieses Mädchen, es sagt, es hätte sich vor ein paar Tagen mit dir in der Bücherei in Birmingham unterhalten. Sie meinte, du wirst dich bestimmt an sie erinnern, du hast ihr zwanzig Dollar gegeben. Bitte, Chance, das ist alles zu eigenartig, um es am Telefon zu erklären, also ruf mich zurück. Ruf mich heute Abend zurück, okay?»
    Ein gedämpftes Klick, als er auflegt, dann piept das

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