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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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Nachmittag allein mit ihrer bizarren Phantasie auch nur eingebildet haben mochte.
    Ich jage mir gerade selbst einen Scheißschrecken ein, dachte sie, und das ist auch schon alles. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war wahrscheinlich aus der Wohnung nebenan gekommen, wenn es denn von überhaupt irgendwoher gekommen war. Die Jungs nebenan spielten die ganze Nacht lang mit ihrer Playstation, kämpften mit Zombies oder fuhren Autos zu Schrott, und das mit einer Lautstärke, dass die Scheiben zitterten. Also war es entweder eines der Videospiele oder ein Karatefilm gewesen. Die schauten sie ständig. Sadie verließ den Bürgersteig, machte den ersten unsicheren Schritt auf das Castle zu, als ein Schatten auf die Vorhänge im Schlafzimmer fiel. Ein gleitender, flüssiger Schatten, der ganz langsam über die Vorhänge wanderte. Irgendwie schien er zu nichts zu gehören, nur ein Schatten zu sein, ohne ein Ding oder Wesen, das ihn warf. Sadie blieb stehen, einen Fuß auf der Straße, und beobachtete, wie der Schatten über das Fenster zog. Seine Umrisse waren so unscharf und schwer zu bestimmen wie die einer Sonnenfinsternis. Nach einem Augenblick war er ganz verschwunden, und Sadie stand wieder auf dem Bürgersteig.
    «Komm schon, Baby», flüsterte sie sich selbst zu und versuchte, sich wenigstens etwas zu beruhigen, versuchte, zu klingen wie Deacon bei solchen Sachen – ängstlich zwar, jeder Mensch mit Verstand hätte hier Angst, aber doch nicht kopflos. Die Angst hätte sie leicht überwältigen können, also wandte Sadie den Blick vom Fenster im dritten Stock ab und schaute stattdessen zur Nordseite des lichtgesprenkelten Bergs hinüber, dessen dunkler Kamm in den indigofarbenen Himmel aufragte, die dunkle Gestalt des Vulkan zeichnete sich gegen die aufziehende Nacht ab, die große eiserne Statue stand da wie der aus Stahl und Feuer geschaffene heidnische Schutzheilige der Stadt, der rostige Bewacher hoch droben über dem südlichen Ende von Birmingham.
    Da oben steckt sie bestimmt, dachte Sadie, und sie stellte sich Dancy vor dem mit einem Hängeschloss gesicherten Tor zum Wasserwerkstunnel vor, wie sie durch die rostigen Gitterstäbe ins feuchte dunkle Herz des Bergs spähte. Wenn Dancy aufschaute, konnte auch sie durch die Bäume hindurch die riesige Statue sehen, die ein paar Meter den Hang hinauf auf ihrem Sockel fast genau oberhalb des Parks saß.
    Sadie überquerte die Straße, wobei sie im Vorbeigehen angestrengt nicht hinüber zum Castle sah, und versuchte, nur daran zu denken, wie Dancy allein im Dunkeln zu Vulkans Füßen ausharrte, allein, weil sie alle drei entweder zu beschäftigt oder zu ängstlich oder zu stur gewesen waren, um sie zu begleiten. Falls ich den Mut nicht aufbringe, schäme ich mich vielleicht genug, vielleicht reicht Scham aus, damit ich weitergehe^ und so folgte sie dem Asphalt und dem Maschendrahtzaun eines Parkplatzes in Richtung des freundlichen Straßenlärms der 20. Straße. Später, im sicheren weißgestärkten Licht der Wäscherei, würde Sadie sich einreden, dass das Ding, das vor ihr aus den Büschen geschlichen kam, nur ein Hund gewesen sei, ein großer hungriger Straßenköter mit langen Beinen, spindeldürr, sodass man seine Rippen und das Rückgrat durch das räudige Fell hindurch erkennen konnte. Das würde sie sich einreden und nicht mehr darüber nachdenken, was für Geräusche es von sich gegeben oder wo sie die schon einmal gehört hatte.
    Sadie war ganz still stehen geblieben, hatte es nicht glauben wollen, obwohl sie wusste, dass Glaube hier keine Rolle mehr spielte, während das Ding am Zement schnüffelte, bevor es den wackelnden Kopf hob und sich zu ihr umdrehte. Es bewegte sich genauso langsam wie der Schatten, den sie am Fenster beobachtet hatte, langsam, und seine Bewegungen waren so ungelenk wie die einer Marionette, Holzklötzchen, die an Fäden hängen, die Augen hasserfüllt leuchtende Knöpfe aus blaugrünem Feuer. Als es sich dann auf die mageren Hinterbeine setzte, den Kopf schräg legte und die schwarzen Lefzen zu einem breiten, breiten Lächeln verzog, machte Sadie sich keine Gedanken mehr über Mut oder Scham, sondern rannte auf und davon.
     
     
    «Nein, Pu, ich schwöre dir, du rettest mir mein verdammtes Leben», sagt Deacon, und das Mädchen mit dem Chemielehrbuch, das eigentlich Winnie heißt, tut, als würde es lächeln. Er reicht ihr einen Zwanziger, und sie starrt den Schein kurz an, als wäre er möglicherweise gefälscht, bevor sie ihn

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