Fossil
umgekehrt nicht etwas über den Tunnel, Deke?», fragt sie und hofft, dass man die Verachtung heraushört, die sie gerade empfindet. «Du hast mir nicht den kleinsten Scheiß erzählt, seitdem diese ganze Geschichte angefangen hat. Als ob das alles ein verdammtes heiliges Geheimnis von dir und Chance wäre, als ob ich zu blöd wäre, um es zu kapieren, oder als würde es mich nichts angehen. Als ob man mir nicht vertrauen könnte. Bitte, wie du meinst. Alles prima. Das ist jetzt sowieso nicht mehr wichtig. Das Einzige, was im Augenblick zählt, ist, dass wir Dancy finden, bevor ihr etwas Schreckliches zustößt. Es gibt nämlich sonst niemanden, der ihr helfen könnte.»
Deacon mustert sie einen Moment schweigend, mit dieser überraschten unsicheren Miene, als würde er ihr gerade zum ersten Mal begegnen, so als hätte er bisher nie mehr als einen blassen Abglanz dieses blutenden, wütenden Mädchens gesehen.
«Okay», sagt er endlich. «Aber du bleibst hier, Sadie. Versprich mir, dass du hier wartest, bis ich wieder da bin.»
«Ehrenwort», sagt sie, hebt die Hand und schaut dann hinunter auf Deacons lächerliche weiße Socke über ihrem Fuß. Eine baumwollweiße Socke, die sich langsam scharlachrot verfärbt. «Sei vorsichtig», sagt sie. «Ich weiß nicht, was ich gesehen habe oder ob ich überhaupt irgendwas gesehen habe, aber…» Und sie verstummt, ringt nach Worten, die es nicht gibt. «Etwas stimmt da nicht.»
Ein Teil von ihr hofft, dass Deacon sie jetzt auslacht und ihr sagt, dass sie übergeschnappt ist, aber der reibt sich nur das stoppelige Kinn und zieht den Turnschuh wieder über den nackten Fuß. «Alles wird gut», sagt er. Sadie spürt, wie wichtig es ihm ist, dass sie ihm glaubt, obwohl er es selbst nicht tut. Also lächelt sie, und Deacon beugt sich vor und küsst sie, ein schneller Kuss, von dem ihre Lippen prickeln und sie Deacons leichten Moschusgeschmack im Mund behält. Sie versucht, nicht weiterzuweinen, während Deacon aufsteht und auf das Haus hinter ihr zeigt.
«Bleib nah beim Licht, okay? Falls du irgendetwas hörst, will ich, dass du sofort zu dem Haus da gehst. Und das tust du auch, wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin. Denk nicht erst drüber nach, Sadie, tu es einfach. Sag den Leuten, sie sollen die Cops rufen.»
«Ich liebe dich», sagt sie, aber Deacon hat sich schon umgedreht und scheint sie nicht zu hören, ist zu beschäftigt damit, die Straße hinaufzustarren, dorthin, wo es dunkel wird und der Park anfängt.
«Alles wird gut», sagt er noch einmal, und dann geht er, fort von ihr, große Schritte bringen ihn der Dunkelheit näher. Sadie bleibt allein zurück, und die Luft riecht nach Kudzu und dem trocknenden Blut auf dem Beton des Bürgersteigs.
Deacon Silvey hatte weder den Park noch den Eingang zum Tunnel jemals gesehen, bevor er Chance Matthews kennenlernte. Sie brachte ihn zum ersten Mal her, ein paar Wochen nachdem sie zusammengekommen waren. Es war mal eine interessante andere Umgebung, um sich zu betrinken und sich zu unterhalten. Chance zeigte ihm auch das alte Blockhaus am Eingang des Tunnels. Sie teilten sich eine Flasche Jack Daniel’s und hörten mit Chance’ Ghettoblaster Nick Cave, während sie auf irgendwelche Fossilien in den Kalksteinfelsen zeigte, die überall vor dem Tunneleingang verstreut herumlagen, harter, unansehnlich bleigrauer Stein, vom Wetter abgeschliffene Brocken alter Meeresriffe, die von unvorstellbaren Kräften und dem Gewicht der Zeiten zusammengeschoben worden waren.
Sie saßen zusammen im Gras, während sie redete, ihm beibrachte, wie man Algen von Schwämmen unterschied, Bryozoen und Korallen, was Trilobiten waren, Acaste birminghamensis, benannt nach der Stadt. Und schließlich erzählte sie ihm die Geschichte der Männer, die vor über hundert Jahren das Loch in den Berg gebohrt hatten. Dieser Tunnel war Teil eines ausgeklügelten Systems, über das frisches Wasser vom acht Kilometer südlich der Stadt gelegenen Cahaba River hergeleitet wurde. Der Tunnelschacht bohrte sich auf sechzig Metern Länge quer durch die Kalkstein-, Hornstein- und Eisenerzknochen des Berges. «Meine Großmutter hat da drinnen Anfang der Neunziger Fossilien gesammelt», sagte sie.
«Darum bist du also so ein schlimmer Nerd.» Er grinste und kratzte sich am Kinn. «Deine Großmutter ist an allem schuld.»
Chance lächelte auch. «Sag bloß, dir würde irgendetwas einfallen, womit ich mein Leben verbringen könnte und das nur halb so großartig
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