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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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oder wichtig wäre? Ich lerne lesen, Deke, und zwar nicht nur die paar Sachen, die der Mensch während seiner kurzen Existenz aufgeschrieben hat. Die Geschichte unseres gesamten beschissenen Planeten steht in den Steinen geschrieben, liegt hier herum und wartet darauf, dass wir lernen, sie zu entziffern, die Zeit zu entschlüsseln.»
    Und er küsste sie, schmeckte den Bourbon auf ihrer Zunge und wünschte sich, er könnte ihre Leidenschaft wenigstens ein ganz kleines bisschen nachempfinden, liebte sie schon allein dafür, dass sie so voller Leben war, dass sie sich noch nicht selbst verloren hatte, nicht ihr Herz und nicht ihren Sinn für die Wunder der Welt. Und möglicherweise war sie ja stark genug und würde für immer so bleiben.
    Doch heute Nacht scheint dieser Nachmittag Äonen entfernt und so unwiederbringlich zu sein wie die Zeit, zu der der Berg noch aus Schlick und Matsch bestand und belebte ozeanwarme Gewässer die Erde bedeckten. Die Straße endet als Sackgasse, und Deacon bleibt stehen. Aus Asphalt wird abrupt gepflegter Rasen, und ein gewundener Pfad führt durch Bäume zu einem Picknicktisch in der Nähe des Blockhauses. Er schaut über die Schulter. Von hier aus kann er Sadie nicht mehr sehen, nur das warme Licht von der Veranda und die Autos, die auf beiden Seiten der schmalen, abfallenden Straße anständig in einer Reihe geparkt sind.
    Und auf einmal hat er schreckliche Angst um Sadie, sie ist sein Anker, das letzte Seil, das seine verkommene Seele noch zusammenhält, und am liebsten würde er zurücklaufen zu Sadie und sie von hier wegbringen. Soll Dancy ihre Schlachten allein schlagen, und von jetzt an wird er auch Chance ein für alle Mal vergessen und die regnerische Aprilnacht, als er und Chance und Elise Alden mit einem Bolzenschneider hierherkamen. Damit hat dieser ganze verrückte Mist doch angefangen. Ab da ging alles schief und wurde immer nur noch schlimmer, nach dem, was hier passiert ist und worüber sie nie gesprochen haben, und jetzt ist Elise tot. Er will das alles nur noch vergessen, und auch die Geister, die er sein ganzes Leben lang schon sieht. Wenn er jetzt umdreht und alles hinter sich lässt, ist er endlich einfach nur Deke. Was er nicht von Sadie oder einer guten Flasche Whiskey bekommen kann, braucht eh kein Mensch. Wer ist schon scharf darauf, dass sein ganzes verdammtes Leben eine einzige schlechte Folge der Twilight Zone ist? Deacon macht einen Schritt weg vom nachtumhüllten Park.
    «Meinst du nicht, dass du dafür jetzt schon ein bisschen zu weit gekommen bist?» Die stahlharte, seidigweiche und brennende Stimme ist sowohl in seinem Kopf als auch irgendwo da draußen versteckt, kommt von dem Pfad, der zum Tunnel führt. Er weiß, dass es seine eigene Stimme ist, dass es Elise’ Stimme ist, genauso wie die von Dancy Flammarion. Alles, alles das auf einmal, sämtliche ausgefransten Stränge des verschwendeten Lebens eines Feiglings laufen hier zusammen, haben ihn hierher gebracht, und lassen ihn nun nicht mehr gehen. Deacon dreht sich um und stellt sich der Dunkelheit, die unter den Bäumen lauert.
    Da bemerkt er den Faden, der fest um den Stamm eines Hornstrauchs geschlungen ist, ein weißer gedrehter Faden, wie die abgerissene Schnur eines Kinderdrachens, der von der Straße zum Baum und dann weiter zum nächsten Baum führt. Deacon berührt die straff gespannte Schnur vorsichtig mit den Fingerspitzen, den Fingern seiner linken Hand, als ob er es nicht besser wüsste. Augenblicklich verschwinden die schwülen Gerüche des Juliabends, machen dem süßlichrohen Gestank nach fauligem Fisch und Orangen Platz. Seine Knie werden butterweich, und er muss sich am Strauch festhalten, damit er nicht zu Boden geht, die Schläfen schmerzen, hinter und zwischen seinen Augen pulsiert eine Migräne. «Nein», knurrt er, «nicht jetzt.» Als ob er nicht hilflos ausgeliefert wäre, als ob er mit dem Loch, das um ihn herum aufreißt, noch schachern oder es einschüchtern könnte, ein ausgefranstes Loch in der Zeit oder seinem Verstand, und Deacon kann sich nur noch gegen den Baum lehnen und alles beobachten.
    Die schillernden Augen unter den krummen, tropfenden Bäumen, deren Blätter so dick und weich sind wie Käse, wölfische Gesichter, grob aus Stroh, Haar und Federn geflochten. «Sie stammen aus einem unbekannten Land», sagt Dancy. Dancy sitzt zusammengesunken am Eisentor, hat den Tunnel im Rücken und hält etwas vor sich in der Hand, etwas Kleines und Scharfes und Silbernes,

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