Fossil
die Nacht gibt da draußen. Ganz genau, denkt sie, nichts außer der Nacht.
«Verdammt, hab ich nicht gesagt: Vergiss es, Soda?», knurrt Deacon, legt auf und reibt sich kräftig die Augen. Sadie dreht sich um und setzt sich auf einen der harten Plastikstühle, die vor dem Fenster aufgereiht stehen.
«Ruf doch Peggy an. Wenn du ihr sagst, dass es ein Notfall ist…» Doch Deacon hustet nur ein trockenes, kratzendes Lachen hoch und fixiert die Uhr über dem Automaten, aus dem man kleine Schachteln mit Seifenpulver und Weichspüler zieht.
«Die sucht schon die ganze Zeit nach einer Entschuldigung, um mich in die Wüste zu schicken. Falls sie meinetwegen an einem Samstagabend herkommen muss, ist das wahrscheinlich der Tropfen fürs Fass.»
«Und wenn du ihr nun sagst, dass es ein Notfall ist?», wiederholt Sadie. «Sie kann dich doch nicht feuern, wenn es ein Notfall ist, Deke.» Sadie strengt sich sehr an, damit es nicht allzu ungeduldig klingt, aber auch sie schaut auf die Uhr. Seit sie ihre Wohnung verlassen hat, ist fast eine Stunde vergangen, und es ist sogar noch länger her, dass sie Dancys Verschwinden bemerkt hat.
«Ist es das denn? Ein Notfall?»
«Was soll das denn heißen?» Der spitze, anklagende Tonfall war nicht beabsichtigt und überrascht sie selbst, aber es fühlt sich gut an. So muss sie wenigstens nicht länger hier herumsitzen, als ob sie keine Angst hätte, und die Entspannte spielen, nur damit Deacon nicht merkt, was in ihr vorgeht.
«Na ja, ich will damit sagen, dass wir sie vielleicht einfach gehen lassen sollten. Du bist nicht für sie verantwortlich, und ich ganz bestimmt erst recht nicht.»
Deacon leckt sich über die dünnen trockenen Lippen, und Sadie weiß genau, wie dringend er einen Drink braucht. Genauso dringend wünscht er sich wahrscheinlich nur noch, dass sie die Klappe hält und ihn in Ruhe lässt. Ein Bier und ein Glas vom billigen Hauswhiskey und dann vielleicht noch eine dunkle Ecke, in der er sich in Frieden betrinken kann.
«Wir können sie nicht retten, Sadie», sagt er, und sie betrachtet den dreckigen Linoleumbelag auf dem Boden, wie sie mit ihren nackten Füßen auf den roten und dreckigweißen Schachbrettfeldern steht. Lass es gut sein, Süße, ein kleines hämisches Flüstern hinter ihrer Stirn. Es ist die Stimme des müden Teils von ihr, der sich wünscht, Dancy Flammarion hätte das Leben von irgendjemand anderem auf den Kopf gestellt. Doch die Stimme ist eben sehr leise, und so sieht Sadie Deacon nach einem kurzen Moment wieder an.
«Weißt du, Deacon, es ist eine Sache, dass du Alkoholiker bist, dafür habe ich dir nie Vorwürfe gemacht. Aber es ist eine ganz andere, ein Feigling zu sein.»
«Mir ist da ehrlich gesagt nie ein großer Unterschied aufgefallen», sagt er. Danach herrscht eine lange Weile bleischweres Schweigen zwischen ihnen, wie lange genau, lässt sich am monotonen Brummen und Gluckern einer der Waschmaschinen ablesen. Jedenfalls reicht die Zeit, damit Sadies Wut ebenso mächtig wird wie ihre Angst und damit Deacon es auch merkt. Das weiß sie. Und sie tut nicht so, als würde sie die Verachtung in seinem Blick nicht spüren, als wüsste sie nicht, wie weit sie eben gegangen ist und dass er sie gleich zum Teufel jagen wird. Oder zu all den durchgedrehten kleinen Albinoirren dieser Welt, wenn sie schon auf dem Weg ist. Dann seufzt Deacon und schaut zum Telefon und auf seine Liste mit lauter Namen und Rufnummern. Als er wählt, dreht Sadie sich wieder zum Fenster und der tiefen Nacht voller Schatten, die noch immer auf sie wartet.
Den Nachmittag hat sie mehr oder weniger vor dem Computer verbracht, ihre Finger auf der Tastatur waren so viel langsamer als ihre galoppierenden Gedanken. Die Zeitverzögerung zwischen ihren Ideen und deren Umsetzung mit Adlersuchsystem war frustrierend. In letzter Zeit wurde sie von einem kreativen Fluss mitgerissen, nachdem monatelang nur unsichere Sätze in den Computer tröpfelten. Sadie hat seitdem verzweifelt versucht, mit sich selbst Schritt zu halten, und sich geärgert, dass sie in der Highschool keinen Kurs in Maschineschreiben belegt hat. So verlor die Inspiration vielleicht bald die Geduld, hatte genug von ihr und verzog sich wieder in das Loch, aus dem sie gekrochen war. Sadie hat über Kopfhörer immer und immer wieder dasselbe Album von Brian Eno gehört und zu viel geraucht, als ob das helfen würde. Eine ganze Schachtel mit leicht vertrockneten Lucky Strike, die ihr von Deacons jüngstem
Weitere Kostenlose Bücher