Fossil
vollkommen aus, um überall zweimal nachzusehen. Also suchte Sadie auch auf dem Flur, suchte ihn vom einen Ende bis zum anderen ab, ging hinunter zur Eingangstür und dann zurück nach oben in die Wohnung. Als sie endlich einsah, dass Dancy wirklich fort war, setzte Sadie sich aufs Sofa und starrte auf den Teppichboden zwischen ihren Füßen, der die Farbe von Erbrochenem hatte, und auf ihre schwarzlackierten Zehennägel. Vor kaum einer halben Stunde hatte sie den Kopf noch so vollgehabt von all den Dingen, die Deacon und Chance ihr nicht erklären wollten, von den merkwürdigen Dingen, die Deacon bisher immer nur angedeutet hatte, all das war vorhin zu einem großen Sprachfluss geworden. Und jetzt war sie so müde, fühlte sich so leer, wie in dem Moment, bevor sie die schwarzen Weingummis auf der Türschwelle gefunden hatte. Möglicherweise war Dancy doch nur irgendeine Irre, der die leicht hinters Licht zu führende Sadie ihre Geschichte einfach glauben wollte – weil Sadie das genauso brauchte wie Deacon und Chance ihren Unglauben, beide ebenso bedürftig wie Sadie selbst. Und am Ende hatte die Irre dann genug von ihnen oder war einfach zur nächsten Wahnvorstellung übergegangen und hatte Sadie zurückgelassen. In ein paar Wochen würde Deacon bestimmt sagen, wie albern sie sich alle zusammen aufgeführt hatten und dass es ungefähr hundert vernünftige Erklärungen für die ganze Geschichte geben musste.
Oder…
Wir haben noch nicht einmal über den Tunnel geredet. Sadie sah rasch auf, obwohl sie wusste, dass sie noch immer allein in der Wohnung war und sich nur an etwas erinnerte, was Dancy gesagt hatte, als sie bei Chance auf das Taxi warteten. Wieder so etwas Aufregendes, Unverständliches. Sadie starrte auf die geschlossene Tür und die Türklinke, und ihr Herz klopfte zu schnell.
Wir müssen über den Tunnel sprechen, wir müssen dahin.
Die beschwörende Dringlichkeit in Dancys Stimme konnte kein Gedächtnis in ihrer wahren Intensität richtig abspeichern. Plötzlich ein Geräusch aus dem Schlafzimmer oder dem Badezimmer, ein dumpfes, ungeschicktes Geräusch. Sadie stand sehr langsam auf. Den Blick fest auf den Flur zum Schlafzimmer gerichtet, schluckte sie den Stanniolgeschmack des Adrenalins herunter und rief: «Dancy!», laut genug, dass man es bestimmt auch im dritten Stock noch einigermaßen hören konnte. «Das ist nicht mehr lustig.»
Aber es war nicht Dancy, die ihr antwortete, eigentlich kam überhaupt keine richtige Antwort, eher ein Lachen vielleicht. Ein trockenes, vollkommen freudloses Geräusch, das wohl ein Lachen sein sollte. Ein Ton, der Sadie an tote Blätter und kalten Wind denken ließ und die verlassenen Orte, an denen der Mensch die Skelette von Zügen unter einem unmöglichen Fleisch- und Blutregen verrotten lässt.
Es ist gefährlich. Was auch immer das Geräusch gemacht hatte, erinnerte sich offenbar ebenfalls an jedes Wort von Dancy, denn es schnaufte einmal, danach war zu hören, wie der Badezimmerspiegel zersprang, Glasscherben fielen ins Waschbecken, prallten am Porzellan ab und zerschellten auf dem Fußboden.
«Lauf, Sadie, los.» Es war jetzt egal, ob sie ihre eigene Stimme hörte oder sich an Dancys erinnerte, Sadie hielt jedenfalls erst wieder an, um zurückzuschauen, als sie draußen vor Quinlan Castle stand, im Dunkeln auf der gegenüberliegenden Seite der 21. Straße.
Wenn sie etwas mehr Mut besessen hätte, wäre sie vielleicht direkt zum Tunnel im Valley View Park gegangen statt erst zu Deacon. Wenn sie auch nur halbwegs der Mensch gewesen wäre, der sie immer hatte sein wollen. Denn Dancy hatte es ja gesagt: «Wir müssen über den Tunnel sprechen, wir müssen dahin. Heute.» Also wusste sie, wo Dancy hingegangen war. Und Sadie wusste auch, dass sie allein dorthin unterwegs war, dass es nicht den geringsten Unterschied gemacht hatte, ob sie Dancy glaubte oder ob Deacon Dancy glaubte. Dancy glaubte an ihre eigene Geschichte, und so blieb ihr am Ende keine andere Wahl mehr.
Sadie stand unter der Straßenlaterne und starrte hinüber zum Castle, das vor dem feurigen Ende des Tages aufragte, ein absurdes Gebäude aus behauenen Sandsteinblöcken mit Ecktürmen, das sich in einer Wildnis voller Bürogebäude verlaufen hatte. Oben in der Wohnung brannten alle Lichter, und Sadie war sich nicht einmal sicher, ob sie die Tür zugemacht hatte. Hier stand sie nun also auf der Straße, barfuß und in Panik wegen etwas, das sie gehört oder sich nach einem ganzen
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