Fossil
sieht er den auf dem Boden liegenden Faden und greift danach, der Schmerz ist ihm jetzt egal, der ist jetzt eh da und wird bleiben, bis es ihm langweilig wird und er weiterzieht, um sich jemand anderen zu suchen, den er foltern kann.
«Was ist denn mit dir los, Deke?», fragt Sadie, flüstert, aber er antwortet nicht, weil er es nicht weiß, nichts weiß, das sie nicht mit eigenen Augen sehen könnte. Er zieht an dem weißen Faden, der sich dabei fest spannt.
«Der ist am Tor festgebunden», sagt Sadie, steht auf, lässt ihn einfach auf der Erde liegen und folgt der Schnur bis dahin, wo sie um einen der Gitterstäbe geknotet ist.
«Sie war hier, Deke», sagt sie. Deacon stützt sich auf die Ellbogen und blinzelt durch den Schmerz und die Übelkeit, versucht, die Augen zu fokussieren, nur ein trauriger Abklatsch von Bildschärfe, den er da hinkriegt, bis er endlich Sadies dunkle Umrisse erkennt. Sie hockt vor dem Tunneleingang und hebt etwas vom Boden auf, dann hält sie es hoch, damit Deacon es sehen kann. Die Klinge des Schweizer Taschenmessers leuchtet stumpf und kalt, es gibt kaum genug Licht, das der Stahl zurückwerfen könnte, sehr wenig Licht, das nicht vom hungrigen Tunnel verschluckt wird.
«Was ist mit ihr passiert?», fragt Sadie ihn. «Wo zum Teufel steckt sie, Deke?» Er antwortet nicht, weil er es nicht weiß, legt sich hin und schließt die Augen, und Deacon lauscht den Grillen und Sadies Weinen, während er darauf wartet, dass der Schmerz verschwindet.
Es ist später, eine, vielleicht zwei Stunden, und Deacon und Sadie befinden sich wieder auf Chance’ Veranda vor dem Haus. Deacon hat schon dreimal geklopft, aber es ist niemand an die Tür gekommen, drinnen regt sich nichts, obwohl Chance’ Auto in der Auffahrt steht und wohl in jedem Zimmer Licht brennt.
Sadie sitzt allein auf der Hollywoodschaukel auf der Veranda und schwingt langsam vor und zurück, Dancys Seesack und was von seinem Inhalt noch übrig ist, hat sie auf dem Schoß. Das ist alles, was sie gefunden haben, nachdem Deacon wieder gehen konnte. Zusammen mit der humpelnden Sadie war er drei Blocks weit dem Faden gefolgt, von Baum zu Telefonsäule zu Straßenschild, ein Punkt verbunden mit dem anderen, fort vom Tunnel bis zu den Marmorstufen der Ramsey High School. Der Seesack lag unter ein paar Oleanderbüschen in der Nähe des Bürgersteigs. Durch den olivgrünen Stoff gingen zwei oder drei lange Schnitte, als ob jemand das Ding mit einer Rasierklinge bearbeitet hätte, und Dancys Sachen lagen über die ganze 13. Straße verteilt. Deacon wollte sie einfach allesamt liegenlassen, komm jetzt weiter, Sadie, aber sie sammelte zusammen, was sie nur finden konnte. Ein paar schmutzige T-Shirts, dreckige Unterwäsche, ein paar Bücher und ein alter Kaffeebecher mit einem Plastikdeckel. Dann stopfte sie alles wieder in den Sack.
Deacon klopft wieder, lauter diesmal, und jetzt sind drinnen Schritte zu hören. «Eine Minute», ruft Chance, und eine Sekunde später fragt sie: «Wer ist denn da?» Ihre Stimme klingt nervös und weit entfernt, gedämpft durch die Tür.
«Ich bin es», sagt Deacon laut und geht mit dem Mund dicht ans Holz der Tür, damit sie ihn auf der anderen Seite hören kann. «Nur ich und Sadie.»
Der Metall-auf-Metall-Klang sich öffnender Schlösser, sich drehende Zuhaltungen und das stumpfscharfe Klick des Riegels im Sicherheitsschloss, das zögerliche Klirren der Vorhängekette, und als Chance endlich die Tür öffnet, wird Deacon nach so viel Nacht vom Licht im Flur geblendet. Es fühlt sich an, als würde man ihm zwei nagelneue und glühend heiße Eisenspitzen in die Pupillen und ganz durch bis zu seinem Hinterkopf bohren. Chance sagt kein Wort, sondern starrt ihn nur an. Deacon beschirmt die Augen mit der Hand und blinzelt angestrengt zurück, damit er trotz Licht und Schmerz etwas sehen kann.
«Ja, ich weiß, ich hätte erst anrufen müssen», sagt er, dann jedoch bemerkt er den Sturmwind von Gefühlen, der durch ihre grünen Augen wirbelt, das wilde smaragdfarbene Unwetter darin, etwas, das er unterbrochen hat, und er vergisst, was er sagen wollte.
«Was willst du, Deacon?»
«Sadie ist verletzt, sie hat eine Schnittwunde am Fuß.» Chance holt ungeduldig Luft und späht an ihm vorüber zur Verandaschaukel. «Und ich glaube, Dancy ist möglicherweise tot.»
«Das weißt du nicht», fährt Sadie ihn bissig an. «Du weißt gar nichts. Wir haben keine Leiche gefunden. Nicht einmal Blut, also tu nicht so, als ob
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