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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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du das schon wüsstest, Deacon.»
    Chance schaut wieder zu Deacon, und jetzt spiegelt sich noch etwas anderes in ihrer Miene, etwas Neues, das durch den Sturm hinter ihren Augen zieht. «Wovon zum Teufel redet ihr beide?», fragt sie ihn.
    «Dancy ist allein zum Tunnel gegangen.» Ihm fällt nichts ein, was er sagen könnte, damit die Geschichte irgendwie plausibel klingt, und auf keinen Fall kann er Chance erzählen, was er im Park wirklich gesehen hat, noch nicht, jedenfalls. Also greift er stattdessen in die Hosentasche seiner Jeans, holt das Schweizer Taschenmesser heraus und hält es Chance hin. Sie starrt darauf, und es ist ganz still, man hört nichts als das Zikadenwispern der Nacht und das rhythmische Quietschen der Schaukel. «Kommt besser rein», sagt Chance.
     
     
    «Nein, ich bin seitdem nicht wieder da gewesen. Noch nicht», sagt Chance und betrachtet den Fingerbreit Whiskey in ihrem Glas. Sie sieht beim Sprechen weder Deacon noch Sadie an. «Eine halbe Stunde nachdem ich zu Hause war, habe ich mich dazu gezwungen, Alice anzurufen, und die hat die Bullen geholt. Ich habe dann noch einmal mit ihr telefoniert, als ihr gerade kamt.»
    Deacon gießt sich noch ein Glas ein aus der Halbliterflasche auf dem Küchentisch, es ist sein drittes. Seit sie sich hingesetzt haben, geht es seinem Kopf langsam besser, und er kann um die dornenbesetzten Enden seiner Migräne herum denken. Bernsteinfarbenes Feuer, um die Qual auszubrennen, und das ist keine Übertreibung, Qual ist wirklich das beste oder sogar das einzige Wort für diese entsetzlichen Kopfschmerzen, die fast immer auf Deacons Visionen folgen, seine Episoden, seine Anfälle, was immer auch mit ihm geschieht, sobald er das Falsche berührt. Alkohol war die am schnellsten wirkende Medizin, die er je gegen die Pein gefunden hat. Er nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas und schaut hinüber zu Chance auf der anderen Seite des Tischs. Das alte Notizbuch aus der Kiste liegt vor ihr, und sie hat die rechte Hand daraufgelegt, als würde sie gerade einen Eid schwören.
    «Alice war mit den Wachleuten der Uni im Labor.»
    «Und? Was haben sie herausgefunden?», fragt Deacon und spuckt den Eiswürfel zurück ins Glas.
    Chance zuckt die runden, jungenbreiten Schultern. «Nichts. Sie haben nicht das Geringste entdeckt», antwortet sie. «Außer, dass die Kiste weg war, samt all den Dingen, die wir schon aus ihr herausgeholt hatten. Nur das hier ist übrig geblieben.» Sie klopft zweimal mit dem Mittelfinger der rechten Hand auf das Notizbuch und lächelt ein kaltes, müdes Lächeln. «Ich habe es heute Nachmittag hier liegenlassen, als ich mit der Kiste ins Labor gefahren bin.»
    «Ich begreife nicht, weswegen wir das nicht alles der Polizei melden», sagt Sadie. Ihre Hände zittern noch immer so schlimm, dass Deacon hören kann, wie die Eiswürfel in ihrem Glas klimpern. Sie hat noch keinen einzigen Schluck Whiskey getrunken, aber Chance schon dreimal nach einer Zigarette gefragt, obwohl sie weiß, dass die nicht raucht. «Wir müssen zur Polizei.»
    «Und was sollen wir denen sagen, Sadie?», fragt Chance, und Deacon kann sehen, wie sehr sie sich darum bemüht, die richtigen Worte zu finden. Ihre erzwungene Ruhe verrät, dass hier gerade eine unangenehm Berührte versucht, eine Hysterische zu beschwichtigen. Oder vielleicht ist es doch eher nur ein Zusammenprall der unverbesserlich Rationalen mit der unbestreitbar Merkwürdigen, überlegt er und gießt wieder Bourbon nach. Verdammt, dabei haben sie einander noch nicht einmal viel erzählt, nur ganz wenig, und vielleicht ist das sogar das Unheimlichste am Ganzen. Was wird, wenn sie den Mut finden, einander alles zu sagen, die Löcher in der Geschichte des anderen aufzufüllen? Darüber will er jetzt lieber nicht nachdenken, solange er nicht wenigstens noch ein, zwei weitere Gläser Whiskey intus hat.
    «Was meinst du damit? Wir sagen einfach, dass sie verschwunden ist.» Sadies Stimme klingt gerade schrill genug, um Deacon langsam auf die Nerven zu gehen. «Wir sagen ihnen, dass sie möglicherweise in Schwierigkeiten steckt.»
    «Aber das wissen wir doch gar nicht mit Sicherheit», sagt Chance. «Im Augenblick wissen wir eigentlich gar nichts, außer dass sie aus eurer Wohnung abgehauen ist, ohne sich zu verabschieden, dann ihren Seesack verloren hat und das Taschenmesser im Park hat fallen lassen.»
    Sadie macht ein erstauntes, ersticktes Geräusch und starrt Chance an. Verwirrung und Wut kämpfen still um die

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