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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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Perspektive zu sehen, Chance.»
    «Ach ja? Und woher soll ich wissen, dass du die Kiste nicht genommen hast, Alice? Ich meine, das wäre doch gar nicht so abwegig. Du wolltest den Kram doch auf dem ganzen Campus herumzeigen.»
    «Hey, hey, okay.» Und jetzt steht auch Alice auf. Das papierübersäte Bollwerk von einem Schreibtisch steht zwischen ihnen, aber Alice’ Wut überbrückt diese Barriere mühelos. «Beruhig dich wieder, okay? Wenn du sagst, dass du es nicht warst, dann warst du es nicht. Schön und gut. Ich sehe keinen Grund, dir nicht zu glauben.»
    Chance’ Herz überschlägt sich, rast wie ein verängstigtes Kaninchen, wie etwas, das gehetzt und in die Ecke gedrängt wird. Sie lehnt sich gegen den Rand des Tischs, weil ihre Knie weich werden, als das Adrenalin genauso plötzlich aus ihren Adern rauscht, wie es hineingeströmt ist.
    «Warum hast du mich das dann gefragt, verdammt? Ich habe die Kiste nicht mitgenommen.» Chance’ Stimme klingt so unsicher, wie sie auch auf den Beinen steht. «Die gehörte mir doch sowieso, und wenn ich es mir noch anders überlegt hätte, na und, dann hätte ich dir das eben gesagt und den Krempel wieder mit nach Hause genommen.
    Dafür wäre es nun wirklich nicht notwendig gewesen, mir diese durchgedrehte Scheiße auszudenken.»
    «Okay», sagt Alice und setzt sich wieder. «Das stimmt, ich glaube dir, Chance.» Sie nimmt noch einen Streifen Juicy Fruit vom Schreibtisch.
    Chance nickt und steckt den Arm durch einen der Gurte des Rucksacks. «Gut, hör mal, ich muss etwas tun, arbeiten, irgendetwas, das mich von dieser Geschichte eine Weile ablenkt. Ich gehe ins Labor.»
    «Gute Idee.» Alice rollt das Kaugummipapier zu einem silbernen Kügelchen zusammen, wirft es in die ungefähre Richtung des Papierkorbs, trifft aber nicht. «Deshalb bin ich kein Basketballprofi geworden.»
    «Falls du mich brauchst, bin ich im Labor», sagt Chance, dann lässt sie Alice in ihrem chaotischen Büro mit all ihren misstrauischen und unbeantworteten Fragen zurück und schließt die Tür hinter sich.
     
     
    Es sind diese Momente großer Entdeckungen, die Verschwörungen des Unwahrscheinlichen mit dem Unausweichlichen, der staubtrübe Schimmer eines Steins in einer Minenwand, ein zufälliger Hammerschlag – nur ein Augenblick, in dem Milliarden Zufälle zusammenspielen, und der Lebensweg eines Menschen ist für immer entschieden. Es muss nun fast drei Jahre her sein, seit Chance ihr erstes Tetrapodenfossil im schorfigen Bulldozermüll einer Tagebaumine in Carbon Hill gefunden hat. Damals war sie noch im Studium, unterrichtete aber bereits den Laborkurs und leitete Exkursionen zur Einführung in die historische Geographie. Eines verregneten Märzmorgens kutschierte sie gerade eine Minibusfuhre Erstsemester fünfzig Meilen über Land, damit sie die Walker-County-Kohlefelder mit eigenen Augen sehen konnten. Dort angekommen, hörten die Studenten zu – oder taten doch wenigstens so –, wie Chance den Kreislauf progressiver und regressiver Meeresablagerungen erklärte, durch den diese Gesteinsschichten entstanden waren. Dabei führte sie sie durch herbstfarbene Schichten aus Sandstein und Schiefer, Silt und Konglomeratsteine der Pottsville-Formation. Hier war jede der zahllosen Schattierungen der Erdfarben von Rot bis Orange und Braun, Flammendloh bis Blassviolettgrau vertreten, ja, sogar eine kostbardünne Ader Glanzkohle, die aussah wie reine kristalline Mitternacht. Die Minenarbeiter hatten die Kiefernwälder gefällt und die Humusdecke abgetragen. Darunter waren verschiedene Schichten zum Vorschein gekommen aus den Überresten von Torfmooren und breiten Flussdeltas, Tieflandwäldern und großen Riffs, die vor Urzeiten die Küsten eines flachen westlichen Meeres am Rande eines großen Auengebiets gesäumt hatten. Das war zu einer Zeit gewesen, als sich die Landmassen der Erde zusammenschoben und den Superkontinent Pangäa bildeten, fast einhundert Millionen Jahre vor den ersten Dinosauriern.
    Es war bereits später Nachmittag, als Chance ihren Vortrag beendete und den Studenten erlaubte, jetzt allein über die gewaltigen Aushubhaufen zu klettern, um nach fossilen Farnsamern, Sandsteinabdrucken von Kalamitenstämmen und der ornamentalen Rinde ausgestorbener Schuppenbäume zu suchen. Irgendwann im Laufe des Tages hatte Chance eine dicke Schieferplatte gesehen, die mit rostbraunen Sideritkonkretionen bedeckt war. Jetzt ging sie wieder zurück zur Stelle, suchte sich einen Platz inmitten des

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