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Fränkisch Schafkopf

Fränkisch Schafkopf

Titel: Fränkisch Schafkopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Kirsch
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Plattenregal mit dem Buchstaben D. D wie Dylan, Bob. Wie erwartet, hatte dieser gewissenhafte Sammler auch die Rarität »The Times They Are A-Changin’« von 1964. In der Originalfassung also. Sie nahm die Platte aus dem Cover und legte sie auf den Tisch. Jetzt erst bemerkte sie, dass der Linn LP   12 noch lief, der Plattenteller drehte seine Runden, als wäre in dieser Wohnung seit dem Mord nichts passiert. Hatte Klaus Zwo das übersehen? Auch der Verstärker war noch eingeschaltet. Das bekräftigte ihre Vermutung, dass Jakobsohn einer von diesen Dauerdudlern war, bei denen den ganzen Tag die Musik spielte, jene aus der Mode gekommene Spezies, zu der sie auch einmal gehört hatte. Aber ging das überhaupt hier in diesem Mehrparteienhaus ohne größere Reibereien ab, also ohne handfesten Nachbarschaftsstreit?, fragte sie sich erneut.
    Schließlich legte sie die Platte auf den rotierenden Teller und senkte die Nadel behutsam mit dem rechten Finger ab. Schon bei den ersten Klängen von »The Lonesome Death Of Hattie Carroll« fühlte sie sich dahin zurückversetzt, wo sie lange nicht mehr gewesen war: in ihre Jugendzeit. Nostalgische Lebensfreude zog in der Herzgegend, dass es fast wehtat, und drückte auf den Magen vor Trotz und emotionalem Aufgewühltsein. Ihr Zimmer in der Münchner Studentenstadt schwebte als Erscheinung auf dem Plattenteller, mitsamt seiner rot-schwarz gesprenkelten Auslegeware, dem hässlichen Kastenbett, dem allzu kleinen einfachen Einbauschreibtisch voller Hefte, Bücher und Papiere. Und mitsamt den wechselnden Besuchern.
    Diese sofortige Verfügbarkeit von lange zurückliegenden Stimmungen und Empfindungen ließ sie vergessen, warum sie hier war. Sie war nun nicht mehr die Kriminalhauptkommissarin Steiner, die den Tatort in Augenschein nahm und dazu gehalten war, darin nichts zu verändern. Und auch nicht Heinrichs Kollegin, die ihm so zugetan war, dass sie es noch vor wenigen Stunden als Affront gegen ihre eigene Person empfunden hatte, dass man ihm einen Mord zutraute. Nein, in dem Moment war sie die Studentin Paula in ihren mittleren Zwanzigern, ungebunden, unbekümmert und voller Zuversicht auf ihr späteres Leben. Sie setzte sich an den Esstisch, fischte Feuerzeug und Zigarettenschachtel aus der Tasche und zündete sich eine  HB an. Genüsslich zog sie an der Zigarette, die Asche stippte sie in die hohle Hand.
    Als sie mit dem Rauchen fertig war, stand sie auf, drückte die Zigarette in dem spiegelblanken Spülbecken in der Küche aus, öffnete die Balkontür und schnipste die Kippe in den Hinterhof. Danach fiel ihr Blick auf eine Reihe von Aschenbechern, sauber abgespült und alle mit der Öffnung nach unten gekehrt, die in einem kleinen Hängeschränkchen oberhalb des Beckens standen.
    Es waren aber nicht die akkurat aufgereihten Utensilien eines Rauchers, die ihr das Gefühl gaben, in dem Raum stimmte etwas nicht. Irgendetwas fehlte.
    Sie sah sich aufmerksam um, nein, nichts, alles schien an seinem Platz. Erst als sie die Balkontür wieder schloss, wusste sie, was sie vermisst hatte. Es waren die Gardinen, Nessel, dunkelblau, mit der Jakobsohn jedes Zimmer, sogar das winzige Bad, ausgestattet hatte. Und mit Sicherheit auch seine Küche, denn oberhalb der Balkontür waren links und rechts zwei offene schmiedeeiserne Träger befestigt. Doch die Vorhangstange mit verdrehtem Vierkantrohr fehlte – und mit ihr die Gardinen. Sie rückte den Küchenstuhl vor die Tür, stieg darauf und strich vorsichtig über die Träger. Lediglich die halbkreisförmigen Rundungen waren staubfrei – also musste die Gardinenstange erst vor Kurzem abgenommen worden sein.
    Zurück im Wohnzimmer, setzte sie sich wieder an den Esstisch und hörte die Platte zu Ende an. Dylans nuschelndes Genöle war so herzergreifend und überwältigend in seiner Dringlichkeit, dass die beruflichen Anforderungen an sie daneben noch mehr verblassten. Und zwar so fern in den Hintergrund traten, dass sie mittlerweile die Schutzhandschuhe abgestreift und beide Hände auf den Tisch gelegt hatte, dazwischen die Plattenhülle.
    So saß sie reglos da und lauschte, bis sie nur mehr das rhythmische Schrammen des kreisenden Plattentellers hörte. Sie stand auf und schaltete den Plattenspieler aus. Steckte die Scheibe in die Hülle und stellte sie zurück ins Regal. Den Verstärker ließ

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