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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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war derart miserabel, da ist fast jeder zum Spezialisten für Nahrungsmittel geworden. Wobei es weniger um den Geschmack ging als darum, was man essen kann und was nicht. Ich habe mir sicher mehr Gedanken über das Essen gemacht als über meinen Unterricht. Deshalb fanden wir den Sekretär der Volkskommune auch ganz in Ordnung, ein ehrlicher Mann, der seine Gäste mit großen Schüsseln bewirtete. Er war in der dritten Generation Schmied, und es war sein größtes Freizeitvergnügen, sich in der Schmiede herumzudrücken und seinen alten Beruf wieder aufzunehmen. Als die Kulturrevolution tobte, waren die Schmiede samt und sonders »autoritätsgläubig«, was damit, dass der Sekretär bei ihnen sein Eisen schmiedete, in direktem Zusammenhang stand. Als die Kampfkritiken sich gegen die Parteigänger der Kapitalisten richteten, überfielen die Schmiede den Richtplatz, und der Sekretär versteckte sich ein ganzes Jahr in der Schmiede. Später wurde die Schmiede im Sturm genommen, die jungen Rebellen schleppten den Sekretär zurück in die Mittelschule und sperrten ihn zusammen mit dem Schulleiter ein. Jeden Tag wurden Kommandos gebrüllt, eine lange Kette von jungen und alten Parteigängern des Kapitalismus musste bei Wind und Wetter und unter sengender Sonne laufen und exerzieren. Die Schüler hatten ihren Spaß daran, die Kommandos zu variieren, mal hieß es »Langsamer!«, dann hieß es »Schneller!«, die Parteigänger des Kapitalismus fielen hin und holten sich blaue Nasen und geschwollene Augen. Eines Tages kam bei dem Sekretär der Eisenschmied durch, er prügelte sich mit den Schülern und wurde so übel zugerichtet, dass er sich in alle Richtungen in die Hosen machte. Die Schüler konnten sich überhaupt nicht mehr beruhigen, sie schleppten ihn vor die Statue des Vorsitzenden Mao, wo er seine Verbrechen gestehen musste. Er hat den Mund nicht aufgemacht, ums Verrecken nicht, aber nur, weil er sich die Zungenspitze abgebissen hat.
    Ach, ich könnte ewig so weitererzählen, nichts als Tragödien. Jetzt ist der Sekretär schon ein paar Jahre tot, aber ich erinnere mich noch genau an die Nacht, als wir in der Volkskommune Shanya ankamen, sein Haar war gescheitelt wie das Haar des reichen Bauern in »Das Schnurbaum-Dorf«, diesem Film über die Bodenreform. Obwohl es mitten im Herbst war, trug er nur eine ungefütterte Jacke. Wenn er sie einmal auszog, kam sein schwarzglänzender, muskulöser Schmiedekörper zum Vorschein, ich hatte immer das Gefühl, dass dieser Körper überhaupt nicht mit seinem Gesicht harmonierte. Damals ließ er uns in der Werkstatt übernachten und meinte, wenn sie mit der Arbeit dort fertig seien, könnten wir immer noch mit Hirsefladen und Schnaps die Zeit totschlagen. Leider waren wir den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und zu müde. Kaum hatten wir uns in diesem Gästehaus hingelegt, als im Generatorraum der Volkskommune ein Telefonat der Schule einging, in dem es hieß, der Schulleiter Deng werde höchstpersönlich mit ein paar Leuten zur Volkskommune kommen, um die neuen Lehrer zu begrüßen.
    Das war eine Zeit, wo man es mit der Herzlichkeit immer ein wenig übertrieb, und obwohl der Sekretär am Telefon wieder und wieder sagte: »Die schlafen längst«, kam aus der Schule nur: »Direktor Deng ist schon auf dem Weg.«
    Vor Aufregung war unsere Müdigkeit wie weggeblasen. Ich bin kein Dichter, sonst hätte ich bestimmt ein Gedicht darüber geschrieben – der Sekretär brachte uns zum Eingang der Schlucht, und von fern sahen wir einen Fackelzug, der sich den undeutlichen Bergpfad zu unseren Füßen hinaufschlängelte – die über zehn Meilen entfernte ländliche Mittelschule wartete darauf, uns die Jugend zu übergeben.
    Eingezwängt von einer Masse großer Kinder ging es in Windungen ständig bergab, bis wir ganz unten bei der Shanya-Mittelschule ankamen. Das Gepäck trugen die Kinder auf der Schulter, Direktor Zhang und Klassenlehrer Yang gingen einer rechts und einer links. Manchmal wurde der Weg eng, dann mussten wir im Gänsemarsch laufen, neben dem Weg ging es senkrecht in den Abgrund, aber wenn ein Tritt einmal fehlging, dann kam immer von hinten oder von vorne eine Hand und hielt einen fest. Als wir in die Nähe der Schule kamen, mussten wir über einen Friedhof, durch die Fackeln warfen unsere Gestalten Schatten, die sich streckten und zusammenzogen, als ob sich die Irrlichter zwischen den Gräbern gegenseitig anzögen. Mir fiel ein, was mir der Sekretär auf den Weg mitgegeben

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