Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
mehr Getränken und Gängen als üblich zu bewirten. »Nur bei Ihnen fühle ich mich noch als Intellektueller«, er lachte bitter bei dieser Höflichkeitsfloskel, doch ich fühlte mich ihm nah, aus der Ferne nah.
***
LIAO YIWU:
Guten Tag, Herr Lehrer Huang.
HUANG ZHIYUAN:
Ist das nicht der kleine Ermao? Wir haben uns so lange nicht gesehen, beinah hätte ich dich nicht erkannt.
LIAO YIWU:
Wann sind Sie nach Chengdu zurückgekommen?
HUANG ZHIYUAN:
1984 .
LIAO YIWU:
Waren Sie schon so früh in Pension?
HUANG ZHIYUAN:
Ich bin auf eigene Faust zurück, ich wollte das alles nicht mehr, die Anstellung an der Schule, die Meldeämter. Siehst du, ich lebte schwarz und tat es diese ganzen Jahre über, ich habe mir mit diesen schwachen Knochen meinen Lebensunterhalt hart verdient, ich war mindestens fünf Jahre lang Gepäckträger. Ha, ich habe Physik studiert, da passt das doch sehr gut, die Arbeit als Gepäckträger.
LIAO YIWU:
Sie standen in Konkurrenz mit den Wanderarbeitern vom Land? Aber Sie sind Mittelschullehrer, Sie haben einen Universitätsabschluss, es hätte kein Problem sein dürfen, Sie zumindest als Aushilfslehrer arbeiten zu lassen.
HUANG ZHIYUAN:
Wenn man nicht gemeldet ist, dann geht gar nichts, da kann man nicht einmal Nachhilfekurse für die Aufnahmeprüfung an der Universität geben. Wenn man Glück hat, kann man unter der Hand als Hauslehrer arbeiten. Ich bin alt und habe ein dickes Fell, aber weil ich mich zu weit aus dem Fenster gelehnt habe, hatten meine Kinder und meine Frau das auszubaden. Die Kinder konnten nicht zur Schule gehen, meine Frau wurde wegen ihrer niederen Tätigkeiten schief angesehen, noch ärgerlicher aber waren die häufigen Überprüfungen der Wohn- und Aufenthaltsberechtigung. Verdammt, das ist meine Heimatstadt! Aber ich gelte als zugezogen! Natürlich ist jetzt alles wesentlicher lockerer, und die alten Geschichten werden nicht mehr erwähnt.
LIAO YIWU:
Damals waren Sie fünfundvierzig, noch zehn Jahre und sie hätten in allen Ehren in den Ruhestand treten können.
HUANG ZHIYUAN:
An diesem widerlichen Ort wäre ich keinen Tag länger geblieben!
LIAO YIWU:
Nach so vielen Jahren in der Mühle alles immer noch so frisch?
HUANG ZHIYUAN:
Für wen lebt denn jemand wie ich? Im Nu ist man sechzig und im Nu ist man unter der Erde, aber wenn ich genauer darüber nachdenke, in meinem Kopf sind nichts als Kampagnen und Hunger. In den Fünfzigern bin ich mit der Freundschaft zur Sowjetunion nicht mitgekommen, in den Sechzigern nicht mit der Kulturrevolution, in den Siebzigern nicht mit den Rehabilitierungen und schon gar nicht habe ich in den Achtzigern am Glanz der Reform- und Öffnungspolitik partizipiert. In den Neunzigern hatte ich dann endlich das Geld zusammen, um einen Gemischtwarenladen aufzumachen – aber die verdammten Steuern fressen mich auf. Der einzige Trost ist, dass aus meinen Kindern etwas geworden ist. Über das Selbststudium mit mir haben sie einen Abschluss an der Universität geschafft, aber jetzt haben sie wieder Mühe, eine angemessene Arbeit zu finden.
LIAO YIWU:
Sie gehören tatsächlich einer schwierigen Generation an.
HUANG ZHIYUAN:
1961 hatte ich gerade an der Universität angefangen. Wenn ich ein wenig früher geboren wäre, hätte ich noch mit den sowjetischen Experten singen und tanzen und romantisch sein können, nach all den Jahren kenne ich immer noch mehr russische Lieder als chinesische; wenn ich ein wenig später geboren wäre, wäre mein Studium in die Zeit der Kulturrevolution gefallen, dann hätte ich dem Aufruf des Vorsitzenden Mao folgen können und wäre berechtigt gewesen, mich zu den jugendlichen Rebellen zu schlagen, und mit diesem Ruhm, wer weiß, vielleicht wäre ich dann auch nicht in eine Bergregion verbannt worden. Immer und überall war ich die stinkende Nummer neun, der Intellektuelle, und entsprechend wurde ich in den Kreis Yanting deportiert.
LIAO YIWU:
Haben Sie immer noch das Gefühl, ein Deportierter zu sein?
HUANG ZHIYUAN:
Wir jungen Leute damals waren Hitzköpfe, vor allem die mit keinem guten Familienhintergrund. Wenn die Organisationen des Kommunistischen Jugendverbandes uns gegenüber von höherer Warte ein wenig Verbundenheit zum Ausdruck brachten, vernebelte uns das vor Begeisterung völlig das Hirn, und wir warfen uns ins Feuer. Vom Familienhintergrund her stammte ich aus dem Kleinbürgertum, natürlich musste ich mit Dankbarkeit dem Folge leisten, was man mir zuteilte. Ich zeigte eine derartige
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