Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Reparaturwerkstatt an der Drehbank steht, noch einmal von vorne anfangen? Das ist mehr als schwierig.
LIAO YIWU:
Das ist sehr schwierig, aber Sie sind nicht der Einzige, der diesen Preis zahlen muss.
LIU WEIDONG:
Das stimmt, ja, die Leute, die die Kulturrevolution mitgemacht haben, die haben für die Alten wie für die Jungen zu sorgen, der Druck lässt einem kaum Luft zum Atmen, woher soll da die Muße zum Lesen kommen? Anfang der Achtziger war die Narbenliteratur in Mode, da habe ich mir noch Zeitschriften gekauft, aber nachher habe ich mir überhaupt nichts mehr zum Lesen zugelegt. Wenn ich allerdings zufällig einmal an einem Kiosk am Straßenrand vorbeigekommen bin, dann habe ich schon einmal hineingeschaut, aber weil ich nicht vorhatte, etwas zu kaufen, habe ich mich nicht getraut, länger herumzublättern, womöglich hätte ich mir noch böse Blicke zugezogen. Meine Frau ist da großzügiger, aber auch sie kauft nur Bücher, die unser Sohn unbedingt braucht. Aus dem Buch »Wie der Stahl gehärtet wird« [97] haben sie ein Fernsehspiel gemacht, das war überhaupt nichts, der Held Pavel Korchagin ist völlig verfälscht, aber wenn unser Sohn schreit, dann kauft meine Frau ihm halt hinter meinem Rücken so einen Roman. Sie meint, wir seien in einem »Engpass« groß geworden, wir wären zu kurz gekommen in unserer Zeit und wir dürften nun nicht die nachfolgende Generation in den gleichen Engpass drücken. Ach ja, wenn man sich so einen alten Roman einpacken lässt, dann macht das gleich ein paar Dutzend Kuai, meine Frau ist Verkäuferin in einem Warenhaus, für das Geld muss sie zwei, drei Tage schuften.
LIAO YIWU:
Könnten Sie mir Ihre Erlebnisse aus der Kulturrevolution erzählen?
LIU WEIDONG:
Was ich da erlebt habe, das ist sehr kompliziert, ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte.
LIAO YIWU:
Wann sind Sie der Organisation der Roten Garden beigetreten?
LIU WEIDONG:
So etwa im Sommer 1966 , an den genauen Tag kann ich mich nicht mehr erinnern.
LIAO YIWU:
Die damals berühmteste Organisation der Roten Garden in Sichuan war der Verband von Chengdu; dann gab es noch den Verband von Chongqing, der dessen erklärter Gegner war – zu welcher Fraktion haben Sie gehört?
LIU WEIDONG:
Ich gehörte zu einer revolutionären Rebellentruppe, von der Sie vielleicht noch nichts gehört haben, weil diese Rebellenorganisationen auf Kreisebene die gleiche Politik verfolgten wie die Roten Garden aus Chengdu.
LIAO YIWU:
Wie es aussieht, steht das in keinem Buch.
LIU WEIDONG:
In den Büchern steht nur, was in den großen Städten passiert ist, wie Peking, Shanghai, Guangzhou. Wenn sich dort auch nur das Geringste getan hat, dann hatte das Auswirkungen im ganzen Land. Auch Chengdu hatte Einfluss, aber das gehört doch zu der inoffiziellen Geschichte. Und noch weiter unten, Rebellenorganisationen gab es wie Sand am Meer, aber sie hatten immer ein wenig den Beigeschmack von Bauernaufständen. Trotzdem, unsere Rebellentruppe hatte damals einen guten Namen, ich wage zu behaupten, dass wir aus dem Kreis Yanting neben dem konservativen Xuguang-Korps aus dem Kreis Zhongjiang (das von der Mutter des Helden Huang Xuguang, der im Koreakrieg an der Seite Koreas gegen die Amerikaner sein Leben geopfert hatte, befehligte wurde) den besten Namen hatten.
LIAO YIWU:
Hatte Ihre Rebellentruppe Gegenspieler?
LIU WEIDONG:
Das Der-Osten-ist-rot-Korps, das war eine opportunistische Fraktion, die erst zu den Autoritätsgläubigen gehörte, dann zu den Rebellen ging und schließlich von den Roten Garden aus Chengdu geschluckt wurde.
LIAO YIWU:
Was soll das heißen, erst autoritätsgläubig und dann Rebellen?
LIU WEIDONG:
Am Anfang der Kulturrevolution gab es in den Schulen Anzeichen von Richtungslosigkeit, die Arbeitsgruppen der Deng-Xiaoping- und Liu-Shaoqi-Linie hielten Einzug. Sie setzten sich in den Schulen fest, gestützt auf die Organisation der Kommunistischen Jugendliga, und überprüften Lehrer und Schüler, die etwas Böses im Schilde führten und sich mit den Rebellen zusammenschlossen, darunter auch diktatorische Objekte aus verschiedenen Kampagnen wie der Anti-Rechtsabweichlerkampagne und der Bewegung zur Ausmerzung der Vier Übel. Damals war ich sechzehn, auch ich wurde überprüft – von heute aus gesehen waren das Bagatellen: Verstöße gegen die Disziplin, Widerreden gegenüber Lehrern, keine klare Trennungslinie zu Mädchen mit ungutem familiärem Hintergund und so weiter und so fort. Eigentlich war
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